Bilder Dominic Nahr / NZZ
Die in London lebende syrische Schriftstellerin Dima Wannous ist zum ersten Mal seit Jahren wieder nach Damaskus zurückgekehrt. Die ängstliche Vorfreude auf die Reise verwandelt sich in Trauer und Beklommenheit.
Am Freitag, 3. Januar 2025, um halb acht Uhr abends kam ich in Beirut an. Es war mir wichtig, Datum und Uhrzeit festzuhalten, weil die Zeit in meinem Kopf stehengeblieben ist, nachdem Bashar al-Asad am 7. Dezember 2024 geflohen war. Und das ist wörtlich gemeint. Sie ist stehengeblieben, und meine Fähigkeit, zu begreifen, ist geschwunden. Diese Reise war surreal, seit ich die Tür «meines Zuhauses» in London geöffnet und mich von meiner Mutter und meinem Sohn verabschiedet hatte.
Es war das erste Mal seit dreizehn Jahren, dass ich mich von ihnen verabschiedete, um von «meinem Zuhause» nach Hause zu fahren. Sieben Tage später werde ich mich nach «meinem Zuhause» in London sehnen. Und dieses Gefühl wird mich irritieren. Ich werde mich zwischen den vielen Orten verlieren, zwischen denen ich in den letzten Jahren hin und her gereist bin; ich werde mich in einer absurden Suche nach dem Ursprungsort und den mit ihm verbundenen Gefühlen der Sicherheit und Stabilität verirren.
Diese Reise war surreal, seit ich meine Familie und «mein Zuhause» in London verliess, um meine Familie und mein Zuhause in Damaskus zu sehen. Ich reiste über Beirut, das mir von 2011 bis 2017 ein Zuhause gewesen war. Kaum am Flughafen von Heathrow angekommen, liess meine Energie nach. Ich war erschöpft und fühlte mich von den Emotionen und Gedanken überwältigt. Meine Uhr zeigte einen ungewöhnlich hohen Puls an.
Ich zögerte auf dem Weg zum Flugzeug, das mich von «meinem Zuhause» in London zu meinem Zuhause in Damaskus bringen sollte, mit einem Zwischenstopp in «meinem Zuhause» in Beirut. Was dieses belastende Gefühl von Absurdität noch auf die Spitze trieb, war die Tatsache, dass der Rafik-Hariri-Flughafen, der mir wegen der Kontrolle durch den Hizbullah und die systematischen Beleidigungen, endlosen Fragen und Verhöre jahrelang Angst eingeflösst hatte, heute von seinem Zugriff befreit ist und nun unter Kontrolle der libanesischen Armee steht.
Syrer und Libanesen atmen auf
Was für ein Paradox, dass der libanesische Ministerpräsident, nach dem der Flughafen benannt ist, vom syrischen Regime durch die Hand des Hizbullah ermordet wurde, der den Flughafen unter seiner Kontrolle hatte. Im Flugzeug beruhigte ich mich wieder, alles war in Ordnung. Ich musste keine Angst mehr haben, weder in Libanon noch an der libanesisch-syrischen Grenze. Aber es ist schwierig, die seit Jahrzehnten akkumulierte Angst von einem Tag auf den anderen zu neutralisieren.
Besonders in der Nacht vom 7. Dezember 2024, als Bashar al-Asad floh, und zuvor in der Nacht vom 27. September, dem Tag der Ermordung von Hassan Nasrallah. Ich dachte über dieses Paradox nach, das die Gewalt in sich trägt: Unsere Existenz ist verbunden mit Tod und Flucht. Als Nasrallah starb, konnten die Libanesen aufatmen und wurden neu geboren, als Asad floh, konnten die Syrer aufatmen und wurden neu geboren. Und ich kehre heute dank dieser Flucht und diesem Tod an meinen Ursprungsort zurück.
Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren durchquere ich den Rafik-Hariri-Flughafen mit dem Ziel, nach Damaskus zu reisen. Und nichts kommt diesem «Ja» gleich, das ich dem Offizier antwortete, der mich fragte: «Was machen Sie hier? Fahren Sie nach Syrien?» Ich verbrachte die Nacht bei meinen libanesischen Freunden, und wir feierten zusammen den Sturz der beiden sogenannten Ewigen, des syrischen und des libanesischen. Wir feierten den Tod des einen und die Flucht des anderen.
Was für ein Elend! Und vor lauter Staunen, meinem und dem ihren, war es eine Nacht, die eher ins Reich der Phantasie gehörte als in das der Realität. Ich habe nicht geschlafen, ich konnte einfach nicht. Ich schloss die Augen und stellte mir meine Stadt vor, die nun erreichbar geworden war. Ich stellte mir vor, wie ich durch meine Strasse lief, zu meinem Haus und dem der Freunde, ich durchquerte die Gassen und betrat die Cafés, die meine Jugend geprägt hatten. Wie sollte ich da schlafen?
Um sechs Uhr morgens kapitulierte ich vor der Schlaflosigkeit und verliess das Bett in der Wohnung von Hazem und Dijana, das mir früher, als ich sechs Jahre lang in Beirut gewohnt hatte, so vertraut gewesen war. Heute aber war es anders. Alles war anders. Ich war anders. Zumindest über zehn Jahre älter. Ich trank mit Dijana und Hazem Kaffee, das Licht in dem grossen Wohnzimmer war fahl, der Morgen hatte sich noch nicht eingestellt.
Dijana wiederholte, was sie mir in der vergangenen Nacht bereits gesagt hatte, nämlich dass mein Reisekoffer zu gross sei für einen Kurzbesuch. Man könnte meinen, ich würde endgültig zurückkehren, nicht nur vorübergehend. Ich sagte ihr nicht, dass der Koffer voll war mit Sachen meiner Mutter (Pullover, Mäntel, Hosen), die sie der Tochter ihres Bruders und deren Töchtern schickte.
Rückkehr in die Vergangenheit
Meine Mutter, deren Enttäuschung und Depression, deren Sehnsucht nach ihrem Zuhause und deren Leiden unter der Trennung wir dreizehn Jahre lang miterlebt hatten, konnte wegen ihres Asylstatus nicht zurückkehren. Deshalb hatte sie mir Sachen von sich und zahlreiche Geschenke mitgegeben, um mit der weit entfernten Vergangenheit Verbindung aufzunehmen, mit ihrem erschöpften Gedächtnis, mit den Gerüchen und Orten und ihren Lieben.
Ohne geschlafen zu haben, raffte ich mich um sieben Uhr morgens auf und verabschiedete mich von meinen Freunden. Ich bestieg ein libanesisches Auto, das mich zur Grenze bringen würde. Dort sollte ich Salem treffen, den syrischen Fahrer, mit dem ich in der Vergangenheit viele Stunden auf den Fahrten zwischen Damaskus und Beirut verbracht hatte.
Das Auto bahnte sich seinen Weg zwischen den Hügeln und Bergen hinauf, dann wieder hinunter. Diese in meinem Gedächtnis eingebrannte Strecke war an jenem Morgen anders als sonst, strahlend und gleichzeitig ein wenig bedrückend. Ich suchte nach Erklärungen für meine Bedrücktheit. Es war nichts als die Angst, die wie in schlafenden Schichten aufgehäuft war. All die Jahre, die ich beruhigt ausserhalb des Ursprungsorts gelebt hatte, ausserhalb der Grenzen der Grausamkeit, werden nicht ausreichen, die Angst weiterschlafen zu lassen.
Dann zerstreute sich die Angst, und alle althergebrachten Gefühle verschwanden, als wir die libanesische Grenze überquerten und auf die syrische zufuhren. Ich machte Salem von weitem aus, der mir lächelnd zuwinkte. Er war zehn Jahre älter, das Haar ergraut. Ich umarmte ihn, als umarmte ich all diese Jahre, die ohne mich vergangen waren, fernab von mir, unbemerkt von mir. Dann stieg ich ins Auto.
Wir waren verlegen ob unserer Gefühle. Wo sollten wir anfangen? Was sollten wir fragen? Was reden? Salem wusste anfangs nicht, was er mir erzählen konnte ausser der Geschichte seiner einzigen Schwester, die mit fünfundfünfzig Jahren den Verstand verloren hatte. Ihr einziger Sohn war Mitte 2013 an einem der Checkpoints im Umland von Damaskus verhaftet worden, und bis zu diesem Tag war sein Aufenthalt unbekannt. Er sagte, sie habe den Verstand erst nach und nach verloren.
Sie sei jetzt im Gefängnis von Saidnaya, schlafe und wache dort, am Eingangstor, und warte darauf, ihren Sohn herauskommen zu sehen. Er sagte, sie hätten lange nach ihm gesucht, nach seinem Leichnam oder einer Nachricht von seinem Tod, damit sie ihre Trauer überwinde, aber ohne Erfolg. «Nur allein das Grab kann sie wieder zu Verstand bringen.»
Er erzählte mir auch von seinem Bruder, der 2012 an einem Checkpoint des Luftwaffen-Geheimdienstes in Madaya entführt worden war. Als die Familie das Lösegeld bezahlte, überbrachte das Regime den erstarrten Leichnam. «Zumindest haben wir meinen Bruder beerdigt und können sein Grab besuchen.» Salems Bericht liess mich verstummen. Unser Gespräch musste mit diesem Verlust beginnen, um das Leben wieder ins Lot zu bringen, um jene Gespräche zu ersetzen, die uns im letzten Jahrzehnt entgangen waren.
Willkommen in Syrien
Wir gelangten zu jenem verrotteten Schild am Strassenrand, dessen blaue Farbe verblichen war. Es stand nicht mehr gerade, sondern hatte sich in Windrichtung nach hinten geneigt, dieses Schild, von dem ich so lange geträumt hatte: «Willkommen in Syrien». Bei diesem Schild liefen die Tränen, ich holte tief Luft.
Ein Strom von Emotionen, Freude, Angst, das Gefühl, gesiegt zu haben, Dankbarkeit, Verunsicherung und die Unfähigkeit zu begreifen, all die Erschöpfung der letzten Jahre fiel plötzlich auf mich herab, und ich bemerkte, wie ich zitterte, als ich vom Auto zu dem alten Gebäude ging, wo unsere Ausweise in die Computergeräte gesteckt wurden und wo unser Schicksal von der Anzahl der Geheimdienstberichte abhing, die über uns geschrieben worden waren, und der Anzahl der Geheimdienstabteilungen, die danach lechzten, uns zu verhaften oder zu verhören.
Alles war surreal. Ich betrat das Gebäude in Begleitung von Salem, ich bebte vor lauter Aufregung. Die Grenzoffiziere lächelten ganz gegen ihre Gewohnheit. Ein junger Offizier, kaum dreissig Jahre alt, begrüsste mich und murmelte: «Herzlich willkommen in Ihrem Land!» Dann trug er meinen Namen in den gleichen alten Computer ein und begann zu lachen. Er fragte mich nach meinem Beruf und sagte: «Wenn Sie wüssten, von wie vielen Geheimdienstabteilungen Sie gesucht werden!» Dann zählte er die Abteilungen auf, die mich verhören, und jene, die mich verhaften wollten. Ich widerstand der Angst. All das war Vergangenheit. Du musst keine Angst haben, sagte ich zu mir selbst.
Dann begann meine Stadt am Horizont hinter dem letzten Hügel auf dem Weg zwischen Beirut und Damaskus aufzuscheinen. Die Zeit wog schwer, die Stadt war gealtert. Das Auto fuhr über die Autobahn von Mezzeh, wo meine Wohnung liegt, Richtung Umayyaden-Platz zum Sheraton-Hotel.
Verstohlen suchte ich nach den Cafés, in denen ich jeden Morgen geschrieben hatte. Sie waren verschwunden oder hatten ihre Namen geändert. Ich verabschiedete mich von Salem und betrat die Eingangshalle des «Sheraton», wo ich während meines Besuches wohnen würde. Kaum hatte ich drei Schritte getan, offenbarten sich mir hier und dort die Gesichter der Freunde.
Begrüssungen, Umarmungen, Weinen, Lachen, Schreien. All das verunsicherte mich noch mehr. Es kam mir vor, als würde ich eine fremde Stadt besuchen, um an einer Konferenz über Syrien teilzunehmen, und mich mit syrischen Freunden treffen, die ich erst in den letzten dreizehn Jahren kennengelernt hatte, also nach dem Verlassen des Landes. Ich war verwirrt.
Als wäre alles ein Traum
All die Freunde dort waren meine Kollegen bei dem Fernsehsender, bei dem ich arbeitete, und bei der Zeitung, für die ich schrieb. Und zum ersten Mal trafen wir uns in dem Land, für das wir so lange gearbeitet hatten. Es waren Freunde aus Frankreich, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, Libanon, Katar, Saudiarabien und Ägypten. Freunde, deren syrische Telefonnummern ich verloren hatte; nun standen unter jedem Namen ihre französische, niederländische, ägyptische Nummer, die Nummer für Whatsapp-Nachrichten und die Nummer für die normalen Anrufe und eine weitere, die während des Reisens benutzt wird.
Ich hatte Angst, mir war, als würde ich nicht existieren, ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich erlebte, Einbildung war oder Traum. Dass die meisten Angestellten des Hotels noch die alten waren – abgesehen davon, dass sich die Zeit in ihre Gesichter gegraben hatte, die Haare hatte ergrauen und ihre Blicke hatte ermatten lassen –, vergrösserte meine Verunsicherung noch.
Wie sollten sich die Hotelmitarbeiter, die es in Asads Syrien gewohnt waren, ihre geheimdienstlichen Aufgaben zu erfüllen – die Gespräche der Hotelgäste und Besucher zu belauschen und Berichte zu schreiben –, jetzt an ihre neuen Rollen in einem freien Syrien gewöhnen? Ich ging in mein Zimmer in dem Fünfsternehotel, das in der Vergangenheit einmal eine Legende gewesen war, doch als ich das Zimmer betrat, wurde mir furchtbar übel.
Das Zimmer wirkte unbeschreiblich alt, es stank nach Zigarettenrauch, das Holz des Schreibtischs war abgenutzt, die Ecken im Badezimmer waren schwarz und schimmelig. Sogar der Duschvorhang war seit Jahrzehnten nicht erneuert worden. Die Handtücher stanken nach einer Mischung aus Zigaretten und Staub. Alles erinnerte an die Räume in einer Geheimdienstabteilung, nicht aber an ein Fünfsternehotel. Ich war vollkommen fertig, von der Müdigkeit und den überbordenden Emotionen, aber ich konnte nicht schlafen.
Ich trat hinaus auf die Strasse. Ich wollte sie verschlingen, aber sie verschlang mich, und ich war plötzlich verschwunden. Ich verlor meine Fähigkeit, mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Es gelang mir kaum, mit meiner Mutter und meinem Sohn zu telefonieren, meistens legte sich das Schweigen über diese Anrufe. Die Stadt hatte mich verstummen lassen. Es gab keinen Raum für Wörter und Erklärungen und keine Energie, um die vielen und intensiven Szenen zu beschreiben, die ich erlebte.
Erst um zwei Uhr nachts kehrte ich in mein Zimmer zurück und schwebte noch immer auf einer Wolke aus Traum und Phantasie. Mir fehlte die Kraft, das alles zu begreifen. Ohne es zu bemerken, ging ich auf der Suche nach der Nummer 544 an meinem Zimmer vorbei, als von hinten eine alte, dünne Stimme an mein Ohr drang: «Madame, ihr Zimmer ist hier.»
Ich fuhr zusammen, drehte mich um und sah einen Mann in den Sechzigern. Es war derselbe Mann, der noch vor einem Monat in diesem Hotel gearbeitet hatte, also vor dem Sturz des Regimes. Lächelnd führte er mich zu meinem Zimmer, und mir fuhr ein Schreck in die Glieder. Dieser Mann hatte seine früheren Aufgaben noch nicht vergessen, er kannte alle Zimmer und alle dazugehörenden Gäste. Ich konnte nicht schlafen, jedes kleinste Geräusch von Schritten ausserhalb des Zimmers machte mir Angst.
Krank in Damaskus
Dann wurde ich krank. Ich schleppte mich zwischen meinem tristen Zimmer und der Eingangshalle des Hotels hin und her, sass mit gleichfalls kranken Freunden zusammen und dachte darüber nach, warum alle, die aus dem Ausland kamen, erkrankten. Fieber, Mattigkeit, Atemnot, Gelenk- und Muskelschmerzen, Husten, Schnupfen, Verstopfung, ständiges Erbrechen.
Ich war traurig darüber, im falschen Moment krank zu werden, ausgerechnet ich, die ich so selten erkältet war. War es normal, nach dreizehn Jahren Warten ausgerechnet in Damaskus krank zu werden? Ich stellte mir Bashar al-Asad vor, der den Befehl gab, ein tödliches Virus freizulassen, bevor er nach Moskau floh, um auch die letzten verbliebenen Syrer zu vernichten; um diejenigen zu töten, die herkamen, nachdem sie ein ganzes Jahrzehnt von Rückkehr geträumt hatten.
Dann lachte ich über die Vorstellung, dass Millionen vertriebene Syrer, die sich in Europa niedergelassen hatten, heute in ihr Land zurückkehrten wie Touristen! Ihre Lungen hatten die Fähigkeit verloren, die schwarzen Smogwolken einzuatmen, die von den Zigaretten, Wasserpfeifen, Autos und Stromgeneratoren ausgestossen wurden.
Ihre Mägen vertrugen das Essen nicht mehr, das womöglich wegen mangelnder Stromversorgung und schlechter Kühlung und Lagerung verdorben war. Tatsache ist, dass unsere Seelen schreckliche Augenblicke erlebten, die wir nicht ertragen konnten. Und wenn die Seelen müde sind, werfen sie ihre Last auf die Körper und flüchten sich in seine Organe. Deshalb wurden wir krank; um diesem schrecklichen und phantastischen Augenblick Ausdruck zu verleihen.
In den ersten Tagen bemerkte ich, dass meine wenigen Freunde in Damaskus, die all die vergangenen Jahre dort ausgeharrt hatten, mich wie eine Touristin behandelten. Sie luden mich zu den Lieblingsorten der Touristen ein, in die Altstadt von Damaskus und die prächtigen Restaurants dort; zum Umayyaden-Platz, wo sich das Gebäude für Rundfunk und Fernsehen befindet und wo noch immer das Damaszener Schwert in den Himmel ragt.
Sie führten mich zum Kassjoun-Berg, von wo man auf ein in Dunst gehülltes Damaskus schaute, das wegen des Smogs in Dunkelheit gehüllt war. Oder sie brachten mich zu den Bars im Malki- und im Abu-Rumaneh-Viertel, in die Umayyaden-Moschee, nach Midhat Pascha. Und obwohl diese Touristenorte meine Lieblingsorte in Damaskus sind, wären die Orte, die ich zu sehen gewünscht hätte, doch andere gewesen.
Meine Krankheit ignorierend, stieg ich in ein Taxi und bat den Fahrer, nach Jobar im Umland von Damaskus zu fahren. Jobar, das den ältesten jüdischen Tempel der Welt beherbergt hatte und das ein Zentrum der Demonstrationen gewesen war, die zu Beginn der Revolution 2011 den Rücktritt der Machthaber gefordert hatten. Dieses Jobar hat das Regime zerstört, mit Fassbomben wurde es dem Erdboden gleichgemacht. Es wurde ausgelöscht, als hätte es den Ort nie gegeben.
Gespenstische Ruinenstädte
Dieser morgendliche Ausflug unter einem klaren blauen Damaszener Himmel und einer blind machenden Sonne, die nicht wärmte, verschlimmerte meine Symptome noch. Ich konnte nicht mehr unterscheiden zwischen dem Schwindel, der durch die Krankheit, und dem, der durch das Staunen und das Gefühl von Elend, Unfähigkeit und Schuld verursacht wurde. Zu spüren, dass man das einzige Lebewesen an diesem weitläufigen zerstörten Ort ist.
Ich ging vorsichtig durch die Gassen und vermied es, mich den Strassenrändern zu nähern, weil das Regime Minen hinterlassen hatte, um auch noch die letzten Menschen auszulöschen. Ich atmete Gerüche ein, in die sich Zerstörung, Staub und Stille mischten. Die Stille war unheimlich. Und der Mobilfunk-Empfang äusserst schwach, als sei man auf einem anderen Planeten.
Nichts als Stille und Ruinen und die Geister der Bewohner, die fortgegangen oder gestorben waren. Dann sah ich auf der Mauer eines zerstörten Hauses den Spruch: «Asads Syrien . . . Revolutionsgarde . . . Bataillon 1399». Was für ein unheimlicher Gedanke, dass eine grausame verbrecherische und zerstörerische Tat zu etwas Denkwürdigem werden soll, so dass der Verbrecher das Bedürfnis hat, unbedingt seine Unterschrift unter sein Zerstörungswerk zu setzen. Wie sollen wir von all dieser Vernichtung und Pein gerettet werden? Wie sollen wir nach all diesen Verbrechen einen Bürgerkrieg vermeiden?
Dann fuhren wir nach Harasta, wo das Haus meines Onkels Anfang 2012 zerstört worden war. Wo alle Häuser zerstört worden waren. Dann Douma, Daraya, und diese Ruinenstädte winden sich um Damaskus, umzäunen und umgürten es, ersticken es, nehmen ihm die Luft. Wir kamen an einer grossen Fläche in der Nähe meines Hauses in Mezzeh vorbei, auf der Beton-Rohbauten standen. Der Fahrer sagte, das sei ein Projekt von Asma al-Asad für Wohnungen und Geschäfte.
Am nächsten Tag erzählte mir jemand, der der Folter entkommen war, dass der Zweck dieses Projektes gewesen sei, Leichen in Massengräbern verschwinden zu lassen, über denen diese Häuser gebaut wurden oder wo man sie weit entfernt von den Blicken verbrannte.
Man stelle sich das Umland von Damaskus vor, diese Zone der Zerstörung, die wir vor der Revolution Armutsgürtel genannt hatten, wo Wohn- und Geschäftsprojekte eigens dafür errichtet wurden, die Leichen der Opfer verschwinden zu lassen! Und man bringe es zusammen mit den Folterkellern der Gefängnisse in den vielen Geheimdienstapparaten der Hauptstadt. Dann wird Damaskus zu einem riesigen Massengrab.
Es ist ein schwer zu ertragendes Gefühl, nach dreizehn Jahren Abwesenheit in ein Land zurückzukehren, nach dem man sich gesehnt hatte, und es als riesigen Friedhof wiederzufinden, so dass man bei jedem Schritt zögert. Denn unter jedem Fleck davon kann ein Friedhof oder ein Folterkeller sein.
Dima Wannous, 1982 in Damaskus geboren, ist Schriftstellerin und lebt seit 2017 im Exil in London. – Aus dem Arabischen von Larissa Bender.