Der russische Präsident hat mit wenigen Sätzen wunde Punkte der Europäer in der Debatte um die Ukraine-Hilfe getroffen. Vor allem aber stellte er gigantische Geldsummen für Russland in Aussicht.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat die hitzige Diskussion um Europas Beteiligung an der Verteidigung der Ukraine gezielt zu beeinflussen versucht. Nur einen Bruchteil seiner mehr als zweistündigen Rede an die Nation machten Drohgebärden an den Westen aus. Sie dürften gleichwohl all jene europäischen Politiker und deren Wähler in ihrer Befürchtung bestätigt haben, dass die Konfrontation mit Russland eskaliert, wenn die Europäer bestimmte Waffensysteme oder sogar Bodentruppen in die Ukraine schicken.
Als Unsinn bezeichnete Putin die Befürchtung, Russland könnte Nato-Staaten angreifen. Sollten diese sich aber stärker am Krieg beteiligen und russische Ziele ins Visier nehmen, drohe ihnen das Schicksal früherer Interventionstruppen, nur mit noch schlimmeren Konsequenzen. Indem er auf das nukleare Potenzial Russlands anspielte, meinte er, Russland könne seinerseits diese Länder angreifen. Das könne in der Auslöschung der Zivilisation enden.
Kampf gegen den Westen
Putins Drohgeste war gezielt und zeitlich geschickt platziert. Neu war sie nicht. Immer wieder hatte er in den vergangenen zwei Jahren seit seiner Entscheidung zum grossen Krieg gegen die Ukraine den Westen vor zu viel Einmischung gewarnt. Seine Propagandisten malen seit zwei Jahren apokalyptische Bilder von vernichtenden Angriffen auf europäische Hauptstädte. Eben erst wiederholte der lange einflussreiche Aussenpolitik-Experte Sergei Karaganow die Überlegungen von einem präventiven Atomschlag gegen ein Ziel in Europa, um den Westen zu stoppen.
Mit seiner Drohung am Donnerstag verfolgte Putin wohl hauptsächlich das Kalkül, die europäische Unterstützung für die Ukraine weiter zu schwächen. Zugleich war es ein Signal ans heimische Publikum. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird diesem als Kampf gegen die westliche Dominanz verkauft, bei dem es um nichts anderes als um den Fortbestand der Eigenständigkeit Russlands gehe.
Das Wort «Souveränität» benutzte er mindestens ein Dutzend Mal. Er erinnerte auch an die russischen Waffensysteme, die er vor genau sechs Jahren als Antwort auf die westliche Politik vorgestellt hatte und die nun zum festen Bestandteil der Verteidigungsfähigkeit gehörten. Den Westen warnte er vor einem Rüstungswettlauf wie zu Zeiten des Kalten Kriegs, was vor dem Hintergrund der russischen industriellen Prioritäten in diesem Bereich fast komisch klang.
Putin verteilt Wahlkampfgeschenke
Wie 2018 war die Rede auch in diesem Jahr vor allem ein Wahlkampfauftritt. In zwei Wochen beginnt die auf drei Tage angesetzte Präsidentschaftswahl. Die Vermischung von Präsidentenamt und Kandidatenstatus verbarg der Kreml überhaupt nicht. Putin legte fast zwei Stunden lang das Programm für die Entwicklung Russlands in den kommenden sechs Jahren dar, als habe die Wahl bereits stattgefunden.
Er verteilte gigantische Geldsummen für alle möglichen neuen Vorhaben – von Vorzugskrediten für Familien über Subventionen für Industriezweige bis zu grossen Infrastrukturvorhaben und der Streichung von Schulden in den Regionen. Der Eindruck eines Déjà-vu liess sich dabei kaum vermeiden: Viele der Prioritäten, die Putin in der Sozial-, Bildungs- und Infrastrukturpolitik setzt, wiederholen sich jährlich oder zumindest vor jeder neuen Wahl. Dabei geht stets vergessen, dass Putin das Land seit bald 25 Jahren regiert. Mit jedem Jahr nimmt stattdessen die Ideologisierung von Bildung, Kultur und sozialpolitischen Vorstellungen zu. Auch wuchern die Pfründen und Abhängigkeiten in Verwaltung und Wirtschaft.
Vor allem die Familien von Frontsoldaten, die im Zuge der Mobilmachung im Herbst 2022 in die Armee einberufen worden waren, hatten sich nichts sehnlicher als einen Hinweis darauf gewünscht, wie lange ihre Liebsten noch eingezogen bleiben. Seit Monaten fordern sie deren Demobilisierung. Putin ging darauf ebenso wenig ein wie auf die verbreitete Kriegsmüdigkeit. Stattdessen behauptete er einmal mehr, seit Februar 2022 stehe die russische Gesellschaft Schulter an Schulter zusammen, trage den Kurs der Führung mit und tue alles, um den Soldaten an der Front zu helfen. Diesen gehöre der ganze Stolz des Volkes.
Er führte auch einen Gedanken weiter aus, den er bereits während einer seiner jüngsten Reisen durch das Land geäussert hatte: Die eigentliche neue Elite bestehe aus denen, die an der «Spezialoperation» teilgenommen und dort ihren Mut bewiesen hätten. Sie gehörten an die Spitze von Unternehmen, Provinzen und Verwaltungseinheiten. Ein staatliches Programm mit dem Namen «Zeit der Helden» soll den besten unter ihnen die Möglichkeit bieten, sich für diese Posten zu qualifizieren. Die gegenwärtige «Elite», zu der sein Publikum aus Regierungsvertretern, Parlamentariern und Honoratioren im Saal gehört, wirkte bei all dem eher gelangweilt.
Zynismus in der Familienpolitik
Gerade für die unzufriedenen Angehörigen von Frontsoldaten dürfte Putins Schwerpunkt auf der Förderung des Familienlebens zynisch geklungen haben. Im Unterschied zum Westen habe sich Russland für das Leben entschieden, behauptete Putin und meinte damit die «traditionelle» Familie. Die Grossfamilie mit vielen Kindern müsse der Orientierungspunkt der Gesellschaft sein. Die Steigerung der Geburtenrate hat für ihn mit individueller Entfaltung wenig zu tun, viel mehr aber mit der Sicherstellung von Nachwuchs für die Bedürfnisse der Nation. Das aber kontrastiert mit der Entscheidung zu einem Krieg, der Zehntausende junger Leben auslöscht, Kindern ihre Väter und Ehefrauen ihre Männer nimmt und überhaupt in der Gesellschaft ein Gefühl von Verunsicherung und Zukunftsangst schafft.