Weil die Ermittler einem Hinweis nicht nachgehen, bleibt eine Bestechungsaffäre rund um einen TCS-Mitarbeiter lange unentdeckt.
Ein TCS-Kontrolleur soll gegen Bezahlung Verbotenes ermöglicht haben. Der Mann, der bei einer Prüfstelle des Touringclubs in Biel arbeitete, steht im Zentrum einer der grössten Schweizer Bestechungsaffären der letzten Jahre.
Zusammen mit zwielichtigen Autohändlern soll es dem Fahrzeugprüfer gelungen sein, während über dreizehn Jahren zahlreiche alte Wagen, die eigentlich nicht mehr auf die Strasse gehörten, durch die Motorfahrzeugkontrolle zu schleusen. Die Prüfung: nur zum Schein. Sein Lohn: Bargeld fürs Wegschauen.
Zwischen Sommer 2010 und Herbst 2023 agiert das kriminelle Netzwerk, ohne dass jemand eingreift. Dabei wären der mutmasslich bestechliche Fahrzeugprüfer und die zwielichtigen Autohändler schon mehrere Jahre früher beinahe aufgeflogen. Hätten die Ermittler in Solothurn einen Hinweis konsequent verfolgt.
Dies belegt ein am Freitag veröffentlichter Entscheid des Bundesstrafgerichts in Bellinzona. Das Gericht musste sich mit dem Fall befassen, weil sich die Strafverfolger in Zürich, Solothurn, Bern und Aargau uneinig waren darüber, wer das Verfahren führen soll.
Ein Tippgeber, der sich nicht identifizieren lässt
Im November 2018 erhält die Solothurner Ermittler eine anonyme Meldung, in der schwere Vorwürfe erhoben werden. Der Hinweisgeber schreibt von Betrügereien und Bestechung rund um Autoverkäufe und Motorfahrzeugkontrollen (MFK). Und er benennt einen Autohändler und einen TCS-Kontrolleur aus dem Berner Seeland namentlich. In etwas ungelenkem Deutsch schreibt er, der Autohändler lasse beim Fahrzeugprüfer seine mangelhaften Wagen abnehmen. Und er erwähnt, dass der Händler «Geschänk für MFK» zahle.
Doch die Solothurner Behörden zögern. Der Verfasser der Meldung lässt sich nicht identifizieren, die Hinweise auf das kriminelle Netzwerk scheinen ihnen zu vage.
Die Polizei kontrolliert zwar den Betrieb des Autohändlers. Doch mehr als einen Mitarbeiter ohne Arbeitsbewilligung finden sie nicht. Der Autohändler und sein Mitarbeiter werden wegen Verstössen gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz zu einem Strafbefehl verurteilt.
Aber mehr unternehmen die Ermittler nicht. Die Polizisten hätten keine augenfälligen Unregelmässigkeiten bei den vorgefundenen Fahrzeugen in der Garage angetroffen, halten sie später fest.
Das Bundesstrafgericht sieht es anders. Es schreibt: «Der Vorwurf scheint schlicht, aus welchen Gründen auch immer, nicht untersucht worden zu sein.»
Ein ausgeklügeltes Betrugsnetzwerk
Ins Rollen kommt die Geschichte erst mehr als zwei Jahre später – im Kanton Zürich. An einem frühen Abend im Februar 2021 geht auch dort eine Meldung von einem Tippgeber der Kantonspolizei Zürich ein. Dieser schreibt, über eine Mobiltelefonnummer könne mit einem Mann Kontakt aufgenommen werden, der eine amtlich gültige Motorfahrzeugkontrolle bescheinige, ohne dass die Wagen tatsächlich geprüft worden seien.
Die Zürcher Ermittler nehmen den Hinweis ernst, denn der Tippgeber gilt als seriös und zuverlässig. Und sie stossen bald auf ein ausgeklügeltes und weit verzweigtes Betrugssystem. Im Zentrum: der TCS-Mitarbeiter. In der Prüfstelle im Berner Seeland sind nach bisherigen Erkenntnissen mindestens 1332 ältere Karosserien in teilweise mangelhaftem Zustand durchgeschleust worden.
Der Prüfer soll für die illegalen Bescheinigungen Geld erhalten haben. Mutmasslich hat ihm eine Mitarbeiterin der TCS-Zweigstelle bei den Betrügereien geholfen. Die Ermittlungen sind noch im Gang, es gilt für alle Beschuldigten die Unschuldsvermutung.
Die Fahrzeuge sind danach als amtlich geprüfte Occasionen in verschiedenen Kantonen eingelöst und weiterverkauft worden. Weil bei TCS-Prüfstellen nur eingelöste Fahrzeuge von Mitgliedern geprüft werden dürfen, schlossen die Autohändler eigens fiktive Mitgliedschaften ab.
Im Herbst 2023 schlagen die Ermittler zu. Im Aargau, in Bern, Solothurn und Zürich kommt es zu Festnahmen und Razzien. Die Zürcher Staatsanwaltschaft macht den Fall publik: In einer Mitteilung schreibt sie, man habe rund ein Dutzend Tatverdächtige verhaftet. Die Beteiligten stammen aus der Schweiz, aus Syrien, dem Irak, Pakistan, Sri Lanka, der Türkei sowie der Slowakei und sind im Alter zwischen 28 und 61 Jahren. Die Strafverfolger ermitteln gegen sie wegen Bestechung, Bestechlichkeit, Urkundenfälschung sowie gewerbsmässigen Betrugs. Die dreijährige Ermittlung füllt inzwischen sechzig Bundesordner.
Doch dann, im Frühling 2024, wollen die Zürcher das Verfahren plötzlich an die Solothurner übergeben.
Rüffel für Solothurn, Lob für Zürich
Der Grund: Als die Zürcher Ermittler die Akten aus dem Kanton Solothurn beiziehen, stossen sie auf den Hinweis aus dem Jahr 2018. Und weil damit die erste Untersuchungshandlung im Kanton Solothurn stattfand, fällt die Zuständigkeit nach Ansicht der Zürcher Staatsanwaltschaft zurück an die Solothurner.
Weil sich die Ermittlungsbehörden nicht einig werden, muss schliesslich das Bundesstrafgericht entscheiden. Und dieses geht mit den Solothurner Ermittlungsbehörden hart ins Gericht. In seinem Entscheid hält das Bundesstrafgericht fest, die anonyme Strafanzeige von November 2018 hätte Untersuchungshandlungen zur Folge haben müssen. Es weist den Fall den Solothurner Strafverfolgern zu.
Die Richter werden grundsätzlich: Die Verfolgung von Korruption sei zentral für die Schweiz. Es sei deshalb umso wichtiger, anonymen Hinweisen auf Korruption engagiert nachzugehen. Die Zürcher Kantonspolizei habe – anders als die Solothurner – vorbildlich aufgezeigt, wie der Sachverhalt aufgeklärt werden könne.
Schliesslich führe systematische Korruption nicht nur zu Wettbewerbsverfälschung und damit verbunden zu volkswirtschaftlichen Schäden, sondern sie untergrabe auch die demokratischen Grundlagen eines Gemeinwesens. «Letztlich gefährdet systematische Korruption den demokratischen Rechtsstaat in seiner Existenz», hält das Gericht fest.
Bezogen auf den Fall heisse das, dass die nicht verkehrstüchtigen Fahrzeuge Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer gefährdeten. Denn die Käufer hätten nicht korrekt kontrollierte Fahrzeuge übernommen. Erst die Untersuchung durch die Zürcher Ermittler habe den Betrug zutage gefördert.
Die Staatsanwaltschaft in Solothurn hat den Fall inzwischen offiziell übernommen. Auf Anfrage schreibt sie, durch die Übergabe komme es zu gewissen Verzögerungen. Doch man bemühe sich, das Verfahren voranzutreiben. Die Kritik des Bundesstrafgerichts akzeptiere man. Einigen Aspekten des anonymen Schreibens sei tatsächlich nicht weiter nachgegangen worden.