Mayotte liegt rund 8000 Kilometer von Paris entfernt. Doch auch im französischen Überseegebiet können Kinder, die dort geboren wurden, Franzosen werden. Dies soll nun erschwert werden, was die Diskussion darüber animiert, wer wann den französischen Pass erhalten darf.
Seit bald drei Wochen geht auf Mayotte so gut wie nichts mehr. Viele Schulen sind geschlossen, das Spital und die Krankenstationen funktionieren im Notbetrieb, und in den Lebensmittelgeschäften leeren sich die Regale. Wer sich auf den beiden Inseln fortbewegen will, steht bald an einer der rund ein Dutzend Strassensperren. Die Bewohner des französischen Überseegebiets im Indischen Ozean demonstrieren damit gegen die ungebremste Einwanderung und deren angebliche Folgen: die prekäre Sicherheitslage und die Überlastung der Infrastruktur, vor allem der Gesundheitseinrichtungen und der Schulen.
Nicht zum ersten Mal flog Innenminister Gérald Darmanin am Wochenende nach Mayotte, um die Stimmung zu beruhigen. Vor einem Jahr hatte er bei seinem Besuch versprochen, dass rund 1800 Polizisten und Gendarmen die illegalen Siedlungen räumen und Menschen ohne Aufenthaltstitel ausweisen sollten. Doch dies beruhigte die Lage nur vorübergehend – im Sommer wurden die meisten Einsatzkräfte wieder nach Europa zurückbeordert, um die Ausschreitungen in Dutzenden von Städten einzudämmen. Paris überliess Mayotte wieder sich selbst. Die Bewohner sahen keinen anderen Weg, als – wieder einmal – die Insel zu blockieren.
Geburtsortsprinzip sollte Integration erleichtern
Auch dieses Mal hatte Darmanin eine Massnahme im Gepäck. Der Innenminister versprach, den Zugang zur französischen Staatsbürgerschaft auf Mayotte drastisch zu erschweren. Schon jetzt gelten auf den französischen Inseln im Indischen Ozean strengere Regeln als im Rest Frankreichs. Nun stellte Darmanin in Aussicht, den Grundsatz des ius soli auf Mayotte ganz ausser Kraft zu setzen – also das Recht auf die französische Staatsbürgerschaft für alle Kinder, die auf den Inseln geboren werden.
Die Ankündigung wurde nicht nur auf Mayotte mit grosser Genugtuung aufgenommen. Auch in Paris wird seither heftig darüber diskutiert. Konservative, Nationalisten und die extreme Rechte applaudierten. Marine Le Pen fordert schon lange, das sogenannte Geburtsortsprinzip in ganz Frankreich abzuschaffen. Die Linke befürchtet dagegen, dass eine Spezialregelung für Mayotte eine nicht verfassungskonforme Ungleichheit zwischen den verschiedenen Landesteilen schaffen würde.
Das Geburtsortsprinzip ist in der Geschichte des Landes fest verankert. Bis auf eine 86 Jahre dauernde Periode im 19. Jahrhundert hatten Kinder mit ausländischen Eltern stets das Recht auf die französische Staatsbürgerschaft, wenn sie in Frankreich geboren wurden. Als Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts das Recht gesetzlich verankerte, war dafür die Integrationsidee leitend: Aus dem Nachwuchs der schon damals zahlreichen Einwanderer (aus Italien, Spanien und Algerien) sollten möglichst schnell Franzosen werden – und damit spätere Fabrikarbeiter oder Soldaten, die den Interessen des Landes dienten.
In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Geburtsortsprinzip durch die vorherrschende Migrationspolitik infrage gestellt. Die Zahl der Kinder ausländischer Eltern hatte damals stark zugenommen und lag zeitweise bei mehr als 70 000 Geburten pro Jahr. Versuche, ihnen den Zugang zum französischen Pass zu erschweren, scheiterten zunächst. Erst 1993 wurde die Einbürgerung in Frankreich geborener Kinder an die Bedingung geknüpft, dass diese den Wunsch, französische Staatsbürger zu werden, zwischen dem 16. und 21. Lebensjahr ausdrücklich äussern müssen. Fünf Jahre später wurde das Prinzip der Willensäusserung durch einfacher überprüfbare Kriterien ersetzt: Ein Kind ausländischer Eltern muss nach seinem 11. Geburtstag mindestens fünf Jahre in Frankreich gelebt haben, um bei Volljährigkeit die Staatsbürgerschaft zu bekommen. Der Pass kann bereits ab dem 13. Jahr beantragt werden, sofern das Kind in Frankreich lebt.
Das Geburtsortsprinzip ist immer wieder Gegenstand der politischen Debatte. Besonders rechtsnationale Kreise fordern dessen Abschaffung, weil in ihren Augen das Prinzip dafür sorgt, dass es Einwanderer nach Frankreich zieht. 2021 machten rund ein Viertel der Einbürgerungen Kinder aus, deren Eltern beide ausländische Staatsbürger sind; das waren rund 35 000 Personen. Allerdings ist die Situation in französischen Übersee-Départements aussergewöhnlich: Weil sie als «europäisches Randgebiet» gelten und damit Teil der EU sind, ist es besonders attraktiv und vergleichsweise einfach, dorthin zu gelangen.
47 Prozent der geborenen Kinder mit ausländischen Eltern
Die bitterarmen Komoren liegen nur 70 Kilometer von Mayotte entfernt – selbst in kleinen Fischerbooten ist die Überfahrt machbar. Auch Menschen aus Madagaskar und den Ländern Ostafrikas kommen nach Mayotte. Seit die beiden Inseln zum französischen Département wurden, ist nicht nur die Zahl der Einwanderer signifikant angestiegen. Auch die Anzahl Geburten auf den Inseln schlagen alle Rekorde; rund 10 000 Kinder kommen auf Mayotte pro Jahr zur Welt, 2021 hatten 47 Prozent von ihnen zwei ausländische Elternteile.
Schon 2018 hat Paris daher eine Sonderregelung für Mayotte erlassen: Dort geborene Kinder ausländischer Eltern können den Antrag auf den französischen Pass nur stellen, wenn zum Zeitpunkt der Geburt ein Elternteil seit mindestens drei Monaten eine reguläre Aufenthaltsbewilligung besitzt. Eine solche Bewilligung gilt allerdings nur für den Aufenthalt auf den französischen Inseln im Indischen Ozean. In den europäischen Teil Frankreichs kann man damit nicht reisen. Das betrifft rund 50 Prozent der Bevölkerung auf Mayotte. Lokale Abgeordnete bezeichnen Mayotte deshalb als «Gefängnis unter freiem Himmel.» Auch in diesem Punkt hat Darmanin versprochen zu handeln: Wer einen Aufenthaltstitel für Mayotte hat, soll künftig auch ohne Visum nach Europa reisen dürfen.
Der Innenminister hatte seinen Ankündigungen zusätzliches Gewicht verliehen, indem er sie als Verfassungsänderung ankündigte. Doch was auf den ersten Blick wie eine besonders entschiedene Massnahme wirkt, könnte kompliziert werden.
Zum einen, weil bisher der Zugang zur französischen Staatsbürgerschaft nicht in der Verfassung, sondern nur auf Gesetzesebene geregelt ist. Um eine verfassungsrechtliche Ausnahme für Mayotte zu schaffen, müsste also auch das Geburtsortsprinzip erst einmal im Grundgesetz festgehalten werden. Genau dagegen würden sich wohl rechte und nationalistische Kreise wehren. Die Linke will auf keinen Fall Steigbügelhalter für eine territoriale Ausnahmeregelung sein, die die Bevölkerung Mayottes, die jetzt schon in vielen Belangen benachteiligt ist, weiter marginalisiert. Zudem erinnern ihre Vertreter daran, dass das ius soli einer der Werte sei, die Frankreich ausmachen.
Die Regierung läuft Gefahr, in ein ähnliches Szenario zu geraten wie jüngst bei der Verschärfung des Immigrationsgesetzes: Sie macht Zugeständnisse oder Versprechen, bei denen absehbar ist, dass sie sich nicht oder nur teilweise umsetzen lassen. Die Bewohner von Mayotte haben denn auch ihre Strassenblockaden noch nicht vollständig geräumt. Man wolle warten, bis wirklich etwas geschehe, heisst es von Mitgliedern der Protestbewegung.