Seit den Fabel-Weltrekorden von Usain Bolt vor 15 Jahren sucht die Leichtathletik den nächsten Sprint-Star. Schlüpft ein Australier in diese Rolle? Ein Trainer ordnet die Entwicklung von Gout Gout ein.
Die Bestmarken scheinen in Stein gemeisselt. 9,58 und 19,19 Sekunden über 100 und 200 Meter – das sind die Zeiten des jamaicanischen Übersprinters Usain Bolt. Bolt hat diese Weltrekorde vor fast 15 Jahren an den Weltmeisterschaften in Berlin aufgestellt. Haben sie für die Ewigkeit Bestand?
Wissenschafter glauben, dass die physischen Grenzen des Menschen eine 100-Meter-Bestmarke zwischen 9,3 und 9,5 Sekunden zulassen würden. Dazu müsste alles zusammenpassen, Physis, Psyche, Talent, Trainingszustand – eine seltene Kombination. Trotzdem regt sich in der Leichtathletik bei einem Exploit eines jungen Athleten jeweils die Hoffnung, der nächste Superstar des Sprints betrete das Parkett. Einer, der an Bolts Zeiten kratzt, diese sogar übertrifft.
Doch seit Bolts Rücktritt im August 2017 sind alle potenziellen Nachfolger gescheitert. Ein Dominator ist nicht in Sicht, an vier WM gab es vier unterschiedliche Weltmeister über 100 Meter; an zwei Olympischen Spielen zwei verschiedene Sieger. Ausserdem ist seither kein Mensch auch nur auf eine Zehntelsekunde an die Weltrekorde herangekommen. Noah Lyles, der gegenwärtig schnellste Mann der Welt, gewann in Paris in 9,79 Sekunden Olympiagold über 100 Meter. Mehr als zwei Zehntel langsamer als Bolt, eine Ewigkeit.
Der Fehler eines Beamten ändert den Namen
Nun schöpft die Szene wieder einmal Hoffnung. Der Hoffnungsträger heisst Gout Gout. Er ist gerade 17 Jahre alt geworden – zuletzt lief er die 200 Meter an einem Meeting in Australien mit Ozeanien-Rekord in 20,04. Das ist schneller als Bolt im gleichen Alter, dessen U-18-Bestmarke bei 20,13 liegt. Über 100 Meter kam Gout nach 10,04 Sekunden ins Ziel, U-18-Weltrekord eigentlich; doch bei diesem Lauf wehte der Rückenwind zu stark. Bolt hat es in der U-18-Bestenliste über 100 Meter nicht einmal in die Top 50 geschafft. Ist er also gefunden, der neue Rekordmann?
Bolt hat sich auf Instagram zu Gouts Zeiten geäussert. «Looks like young me», schrieb der heute 38-Jährige: «Er sieht wie mein junges Ich aus.» Tatsächlich ähneln sich Bolt und Gout beim Laufen. Beide sind schlaksig, auch wenn Gout 14 Zentimeter kleiner als der 1 Meter 96 grosse Bolt ist. Doch da ist dieselbe Lässigkeit, dazu das goldene Halskettchen, das während des Sprints in der Luft baumelt. Den Vergleich mit Bolt dürfte Gout so schnell nicht mehr loswerden, da kann der Chef des australischen Leichtathletikverbands noch so nachdrücklich betonen, der junge Mann solle langsam aufgebaut werden.
Gout wohnt mit seinen Eltern in einem Vorort von Brisbane, dort finden 2032 die Olympischen Spiele statt. Gout wird dann 24 Jahre alt sein, ein ideales Alter für einen Sprinter. Seine Familie stammt aus dem Südsudan. Die Eltern flüchteten 2005 aus dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land nach Ägypten und von dort nach Australien, wo ihr Sohn geboren wurde. «Gout» bedeutet im Englischen «Gicht». Doch sein richtiger Name würde Guot lauten. Bei der Immigration nach Ägypten transkribierte ein ägyptischer Beamter die arabische Schreibweise falsch; aus Guot wurde Gout. Die Familie bemüht sich um eine Namensänderung.
Adidas bezahlt Gout sechs Millionen Dollar
Ob Guot oder Gout, der Name ist nach seinen jüngsten Leistungen in der Szene bekannt. Anfang Januar reiste Gout in die USA, um dort mit dem Olympiasieger Noah Lyles zu trainieren. Danach wird er das 12. Schuljahr absolvieren; obwohl er jüngst einen Sponsorenvertrag mit Adidas unterschrieben hat. Der Kontrakt wird ihm in den kommenden Jahren sechs Millionen US-Dollar einbringen. Gout ist ein gemachter Mann. Doch hat Adidas das Geld schlau investiert?
Adrian Rothenbühler ist Leichtathletik-Coach. Er trainierte früher Mujinga und Ditaji Kambundji sowie die Schweizer Frauen-Staffel, heute arbeitet er unter anderem als Trainer der Stabhochsprung-Europameisterin Angelica Moser. Rothenbühler sagt über Gout: «Vor allem auf der zweiten Streckenhälfte ist das Talent unübersehbar.» In dieser Phase eines Sprints ist die Beschleunigung abgeschlossen, es geht um technisch sauberes Laufen, die ideale Schrittlänge. «Es ist sichtbar, dass Gout hervorragende Voraussetzungen mitbringt», sagt Rothenbühler.
Rothenbühler vergleicht das Training eines Athleten gerne mit einem Kartenspiel, bei dem verschiedene Trümpfe gezückt werden können. Welche Karte spielt Gouts Coach als Nächstes? Arbeitet er mit einem Athleten an der Explosivität oder an der Technik? Bemüht er sich um Stabilität oder maximale Leistung? Solche Fragen stellten sich bei Gout nun, sagt Rothenbühler. «Von aussen lässt sich nicht einschätzen, welche Karten schon gespielt wurden, woran die Trainer mit ihm schon gearbeitet haben, wo er noch Potenzial hat.»
Rothenbühler plädiert für Stabilität
Dass schnelle U-18-Zeiten noch keine Meriten auf höchster Stufe garantieren, zeigt auch ein Blick in die Statistik. Aus der ewigen Bestenliste dieser Alterskategorie über 100 und 200 Meter hat kein Athlet aus den Top Ten je eine Olympiamedaille gewonnen – ausser Usain Bolt. Nach dem Jamaicaner war bisher Erriyon Knighton am erfolgreichsten. Der Amerikaner hält den U-18-Weltrekord über 200 Meter und ist drei Jahre älter als Gout. Er gewann 2022 und 2023 an Weltmeisterschaften Silber und Bronze über 200 Meter.
Rothenbühler sagt, bei Gout würden trotz den starken Leistungen noch zahlreiche Entwicklungen folgen: «Bei der Beschleunigung, der Explosivität, hat er noch Potenzial.» Es genüge allerdings nicht, den jungen Mann einfach ins Krafttraining zu schicken. Wird ein junger Sportler kräftiger, hat das Auswirkungen auf andere Teile eines Sprints, zum Beispiel auf die Technik. «Wäre ich sein Trainer, würde ich das System zuerst stabilisieren. Also mit gezielten Bewegungs- und Kraftübungen dafür sorgen, dass er frei von Verletzungen bleibt», sagt Rothenbühler. An anderen Stellschrauben wie der Explosivität könne ein so junger Athlet wie Gout auch in zwei, drei Jahren noch drehen.
Rothenbühler hat sich in den sozialen Netzwerken Videos von Gout angesehen, darunter auch ein Filmchen, in dem er Übungen auf einer Kraftmessplatte absolviert. «Auch dort sind die Leistungen beeindruckend, das trifft man aber immer wieder an», sagt Rothenbühler. Gouts Talent ist also unbestritten, ein Garant für den grossen Durchbruch ist das trotzdem nicht. Rothenbühler zieht als Vergleich Mujinga Kambundji heran.
Diamond League oder Nachwuchs?
Kambundji hat alle Stufen des Visana-Sprints, der Nachwuchsserie von Swiss Athletics, absolviert. «Im Nachwuchs war sie selten die Schnellste. Doch in welchem Alter ein Leistungssprung geschieht, ist individuell», sagt Rothenbühler. Kambundji gelang der Durchbruch erst später, heute ist sie zweifache Europameisterin und Hallenweltmeisterin.
Zu Rothenbühlers Kartenspiel gehören nicht nur Talent und sportliche Leistung, sondern auch das Umfeld und die Persönlichkeit eines Athleten. Rothenbühler sagt: «Eine Frage ist, ob Gout bereits nächste Saison auf höchster Stufe in der Diamond League antreten soll oder noch im Nachwuchs.» Ein Sponsorenvertrag wie jener von Adidas erhöhe den Druck auf einen jungen Athleten. Rothenbühler sagt: «Plötzlich läuft ein Sportler nicht mehr nur für sich selbst, sondern spürt, dass jemand Geld investiert hat.» Ob Gout sich davon stressen lässt oder nicht?
Rothenbühler glaubt so oder so daran, dass Bolts Weltrekorde dereinst übertroffen werden – zumindest der über 200 Meter. Ob Gout das gelingen wird? Rothenbühler sagt: «Darüber können wir in fünf Jahren noch einmal reden.»