Nora Fingscheidts Filmdrama «The Outrun» gibt einen exzellenten Einblick in die Dynamik der Suchtkrankheit. Der Film profitiert auch von der überzeugenden Protagonistin.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass man Alkoholismus und Drogensucht für eine moralische Schwäche hielt. Eine kriminelle Verzerrung des Charakters, die unheilbar ist. Erst in den 1950er Jahren wandelte sich das Bild: Sucht wurde als Krankheit anerkannt, hoch gefährlich und in vielen Fällen tödlich.
Nora Fingscheidt, bekannt geworden mit dem Jugenddrama «Systemsprenger», hat einen auf den ersten Blick kleinen, auf den zweiten aber enorm klugen und zartfühlenden Film über eine Suchtkranke gedreht. Saoirse Ronan spielt Rona, eine junge Meeresbiologin. Smart und voller Energie, zieht sie von den schottischen Orkney-Inseln, ihrer Heimat, nach London. Dort will sie promovieren und Spass haben wie andere Studierende auch. Doch die Alkoholsucht macht alles zunichte: Entgleisung folgt auf Entgleisung, ihr Freund verlässt sie, in einer Partynacht wird sie fast vergewaltigt und verprügelt.
Selbsthass und Verzweiflung
Das Wechselspiel von gutem Willen, aufzuhören mit dem Trinken, und der Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol ist selten so präzise dargestellt worden wie in diesem Film. Ronan ist in der Rolle der Rona überragend. Sie kann das komplexe Gepräge eines Charakters deutlich machen, der zwischen Selbsthass und Verzweiflung, Zorn auf die Gesellschaft und zermürbender Selbstanklage fast zerrissen wird.
Rona sucht Hilfe bei den Eltern, aber die Konstellation ist psychologisch brisant: Der Vater (Stephen Dillane), ein Farmer auf den Orkneys, leidet an einer bipolaren Störung; tiefe Depression wechselt sich ab mit Phasen manischen Ausser-sich-Seins. Ronas Mutter (Saskia Reeves) lebt allein und ist aus ihrem Kummer religiös geworden. Mit grosser Duldsamkeit erträgt sie die verbalen Attacken der Tochter, die auch im schottischen Exil rückfällig wird.
Für die Behandlung von Suchterkrankungen gibt es keine schnelle Therapie. Diese ist mühsam, und jeder abstinente Tag muss erstritten werden. Fingscheidt begleitet ihre strauchelnde Heldin durch die ersten drei Monate, stellt ihr Helfer und Helferinnen zur Seite (eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker, eine fürsorgliche Freundin), lässt aber keinen Zweifel darüber aufkommen, dass Sucht isoliert und die Betroffenen immer wieder vor die Entscheidung stellt: trinken oder nüchtern bleiben.
Das Ganze spielt vor einer prächtigen Kulisse. Orkney mit seinen romantischen Klippen und der tosenden See ist der perfekte Ort, um das innere Drama eines Menschen mit mächtigen Motiven des Naturschönen zu illustrieren. Auch hier zeigt sich Fingscheidts Gespür für die Logik einer Geschichte und wie sie zu bebildern ist.
Welt der Schönheit
Ronas lange Spaziergänge am Strand, ihre per Voice-over eingespielten Kommentare zum Meer und zur Flora und Fauna der Region machen deutlich, dass es neben der immer enger werdenden Sphäre der Pathologie eine erhabene Welt der Schönheit gibt. Sie bleibt uns auch in der grössten inneren Not zugänglich.
Im aktuellen Blockbuster-Getöse mit zerberstenden kosmischen Räumen und exzentrischen Superhelden schärft «The Outrun» den Blick wieder für das, was Kino jenseits aller technologischen Innovationen vermag: das Wirkliche in der kunstvollen Darstellung vor Augen führen.
Hier ist das die Wirklichkeit einer Krankheit und die Realität der Genesung. Saoirse Ronan, aber auch Stephen Dillane als Vater und Saskia Reeves als Mutter, sind Schauspieler, die keine digitalen Prothesen für ihre Darstellung brauchen. Präsenz und Feingefühl für die Rollen reichen aus, damit eine Regisseurin einen exzellenten Film drehen kann.