Die Türkei hat einen guten Kontakt zu den syrischen Rebellen und profitiert von den jüngsten Entwicklungen. Eine neuerliche Destabilisierung des Bürgerkriegslandes ist aber nicht in Ankaras Interesse.
In den vergangenen Wochen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mehrmals Andeutungen einer bevorstehenden Militäroperation in Syrien gemacht. Nun hat sich das Gebiet im südlichen Nachbarland, über das türkische Verbündete oder Ankara zumindest wohlgesinnte Rebellenkräfte die Kontrolle ausüben, auch ohne direkte Beteiligung der türkischen Streitkräfte deutlich ausgeweitet. Ist die Türkei die grosse Profiteurin der jüngsten Entwicklungen in Syrien?
Flüchtlinge und Kurden
Erdogan verfolgt zwei Ziele in Syrien. Er will die Voraussetzungen für die Rückkehr der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei schaffen. Die Flüchtlingsfrage ist seit Jahren eines der wichtigsten innenpolitischen Themen im Land, das durch die anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch verschärft wird.
Zweitens will Erdogan die kurdisch dominierte Region im Nordosten des Landes zerschlagen oder zumindest die kurdischen Streitkräfte aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet vertreiben. Ankara betrachtet die sogenannten Volksverteidigungseinheiten (YPG), die wichtigste Miliz in der Region, als syrischen Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Türkei bombardiert regelmässig Stellungen der YPG und hat seit 2016 mehrere Bodenoffensiven gegen die Miliz durchgeführt.
Spätestens seit dem Wahlkampf 2023, als die Opposition für den Fall eines Regierungswechsels eine Verständigung mit Syriens Diktator Bashar al-Asad in Aussicht stellte, um die Flüchtlingsfrage zu lösen, spricht auch Erdogan von einer Wiederannäherung an Damaskus. Die Aussicht auf einen Abzug der letzten amerikanischen Truppen aus Syrien, der zu einer Annäherung zwischen den Kurden und dem Regime führen könnte, hat dem Ziel weiteren Nachdruck verliehen. Die Amerikaner sind die wichtigsten Verbündeten der Kurden.
Diese Dynamik spielt auch bei den jüngsten Gesprächen zwischen Ankara und den türkischen Kurden eine Rolle. Asad hat den türkischen Präsidenten bisher allerdings immer ins Leere laufen lassen. Vor dem Abzug aller türkischen Truppen aus Nordsyrien sei er nicht zu Gesprächen bereit – für Ankara eine inakzeptable Bedingung.
Offensive war ohne türkische Zustimmung undenkbar
Druck auf Asad dürfte somit ein wichtiger Grund für die türkische Zustimmung zur jüngsten Rebellenoffensive gewesen sein. Hinzu kamen verstärkte Angriffe des Regimes mit russischer Unterstützung in den vergangenen Wochen auf Rebellengebiete, die neue Vertreibungen auslösten und erst recht die Rückkehr von Flüchtlingen erschwerten.
Die Türkei stellt sich offiziell als unbeteiligte Beobachterin dar. Es ist aber unbestritten, dass die Rebellen gegen den Willen Ankaras eine solche Operation kaum hätten vorbereiten und durchführen können. Die Region Idlib, die Hochburg der jihadistischen HTS, der wichtigsten Rebellengruppe im Nordwesten Syriens, wird fast ausschliesslich über die Türkei versorgt. Türkische Sicherheitsdienste sind im Gebiet stark vertreten. Mittel zur Einflussnahme gibt es für Ankara also viele.
Noch mehr gilt das für die Syrische Nationalarmee (SNA), die ausgehend von den türkisch kontrollierten Gebieten im Norden Syriens am Samstag eine eigene Offensive begonnen hat und dabei vor allem gegen kurdische Kräfte vorgeht. Dies entspricht direkt den türkischen Interessen.
Die SNA, deren politischer Arm in der Türkei sitzt, ist vollständig von Ankara abhängig. Im Vergleich zur HTS und zu ihren Verbündeten ist die Bedeutung der SNA im gegenwärtigen Kampfgeschehen aber zweitrangig.
Destabilisierung Syriens nicht in Ankaras Interesse
All das bedeutet nicht, dass Ankara, wie mitunter dargestellt, der eigentliche Urheber der Offensive ist oder sogar das Kommando führt. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass das rasche Vordringen der Rebellen auch die Türkei überrascht hat. Die Entwicklungen bergen nämlich auch Risiken.
Eine rasch voranschreitende neuerliche Destabilisierung Syriens ist nicht im Interesse der Türkei. Der Rückkehr von Flüchtlingen ist dies nicht förderlich. Auch ohne Deal mit Damaskus hat Ankara allein in diesem Jahr mehr als 100 000 Syrer in die türkisch kontrollierten Gebiete in Syrien zurückkehren lassen. Sollte das Regime in Damaskus doch die Kraft für einen massiven Gegenschlag finden, etwa mit russischer Unterstützung, würde das zudem neue Fluchtbewegungen in Richtung türkischer Grenze auslösen.
Dies relativiert auch die triumphierenden Meldungen der regierungsnahen Presse in der Türkei, wonach mit der Einnahme Aleppos das Flüchtlingsproblem gelöst sei, da die Hälfte aller Syrer in der Türkei aus dieser Region komme. Wie viele dieser Menschen aus der relativen Sicherheit in der Türkei zur Rückkehr in die nun jihadistisch kontrollierte Heimat bereit sind, muss sich allerdings erst zeigen.
Kurden geraten unter Druck
Aus türkischer Sicht als klarer Erfolg gilt hingegen, dass durch die jüngste Offensive auch die kurdischen Kräfte unter Druck geraten. Aleppos Stadtteil Sheikh Massoud sowie die beiden Gebiete Tel Rifaat und Shahba im Norden der Stadt standen trotz Umzingelung durch feindliche Kräfte bisher weitgehend unter kurdischer Kontrolle. Diese Positionen sind durch die jüngsten Frontverschiebungen praktisch unhaltbar geworden.
Der kurdische Oberkommandierende Mazloum Abdi teilte am Montagmorgen über X mit, dass seine Truppen mit allen Gruppierungen zusammenarbeiteten, um eine Evakuierung seiner Leute in den kurdischen Nordosten Syriens zu gewährleisten.
تطورت الأحداث في شمال غرب سوريا بشكل متسارع ومفاجئ، حيث واجهت قواتنا هجمات مكثفة من عدة جهات. مع انهيار وانسحاب الجيش السوري وحلفائه، تدخلنا لفتح ممر إنساني بين مناطقنا الشرقية وحلب ومنطقة تل رفعت لحماية شعبنا من المجازر.
لكن هجمات المجموعات المسلحة المدعومة من الاحتلال التركي…— Mazloum Abdî مظلوم عبدي (@MazloumAbdi) December 2, 2024
Nachdem die kurdischen Kräfte einst fast ganz Nordsyrien kontrolliert haben, dürfte sich ihre Präsenz westlich des Euphrats künftig auf die Region Manbij beschränken. Dieses Gebiet wird fortan noch stärker in den türkischen Fokus rücken. Bereits vor zwei Jahren hatte Erdogan erklärt, dass er auch von dort die Kurden vertreiben wolle.
Dies zeigt auch, wie sich das Kräfteverhältnis unter den internationalen Akteuren verschiebt. 2018 intervenierte Russland, um den Vorstoss protürkischer Kräfte nach Tel Rifaat zu stoppen und so den türkischen Einfluss in Nordsyrien einzudämmen. 2020 bombardierte die russische Luftwaffe aus ähnlichen Gründen einen türkischen Militärkonvoi in Idlib. Den gegenwärtigen Entwicklung hat Moskau aber wenig entgegenzusetzen.







