Nach einem Jahr ist der Quereinsteiger im Präsidentenamt überraschend erfolgreich. Er hat das Land stabilisiert. Viele Menschen haben Hoffnung, dass es aufwärtsgeht – andere sind empört über Milei.
Vier Uber-Fahrer sagen die Fahrt ab, zwei Taxifahrer lehnen ab, als sie das Ziel hören. Gregorio de Laferrere heisst das Viertel in der Peripherie von Buenos Aires. Es sei eines der ärmsten Viertel mit der meisten Gewalt im Grossraum der Hauptstadt, heisst es. Doch an diesem sonnigen Morgen Anfang Dezember wirkt das Wohnviertel mit seinen ärmlichen Häuschen beschaulich – trotz der grünen Kloake, die im Strassengraben vor den Häusern fliesst, und den Gittern, mit denen die Fenster gesichert sind.
Edhit Tejada fährt mit ihrem Rollstuhl aus der Tür und bittet in die Küche. Ihre Schwiegertochter hat einen Kuchen gebacken. Für den Besuch aus der Stadt gibt es Kaffee statt Mate-Tee aus der Kalebasse. Die 64-jährige Tejada erzählt, wie sich ihr Leben verändert hat, seit Präsident Javier Milei im fernen Regierungspalast regiert. «Wir haben zum ersten Mal seit langer Zeit Stabilität», beginnt sie das Gespräch. Es klingt, als hätte sie einen Sechser im Lotto gezogen.
Die Verbesserungen sind bescheiden – aber bedeuten viel
Dabei sind die Verbesserungen auf den ersten Blick bescheiden: Die Inflation ist nicht explodiert, wie sie es schon mehrfach erlebt hat. Das von vielen erwartete Chaos sei ausgeblieben. Es gebe keine Proteste mehr, bei denen Demonstranten tagelang die Strassen blockierten und niemand zur Arbeit komme. Ihr Viertel sei sicherer geworden. «Nach sieben Uhr abends ging niemand mehr auf die Strasse», erzählt sie. «Es gab regelmässig Schiessereien zwischen den Drogenbanden. Das ist vorbei.» Heute patrouilliere hier die Polizei.
Milei hat Argentinien von Anfang an harte Sparmassnahmen verordnet: 33 000 Staatsangestellten wurden die Arbeitsverträge gekündigt. Der Staatshaushalt wurde um ein Viertel gekürzt, Subventionen für Strom und Transport wurden gestrichen. Es sei das brutalste Sparprogramm, das eine Regierung in so kurzer Zeit je umgesetzt habe, brüstet sich Milei.
Gleichzeitig stieg die Armut rasant an, zeitweise um 11 Prozentpunkte. Seit drei Monaten geht sie wieder zurück. Nach Angaben des Statistikamtes Indec sind 52 Prozent der Argentinier arm.
Tejada kann das in ihrem Viertel beobachten. Die Kaufkraft sei gesunken. Es gebe Familien, die am Monatsende nichts auf dem Tisch hätten. Auch sie käme ohne die Unterstützung ihrer Familie nicht über die Runden. Sie bekommt ein Behindertengeld von umgerechnet 200 Dollar – aber keine staatliche Rente dazu. Davon kann sie nicht leben.
Die Kosten sind rasant gestiegen. Tejada holt die Stromrechnung hervor: Umgerechnet 260 Dollar zahlt sie heute. Der Betrag hat sich verdreifacht. In der kahlen Küche stehen nur eine Waschmaschine und ein Kühlschrank. In dem aufgestockten Häuschen und dem Anbau im Hinterhof lebt sie mit den Familien ihrer zwei Kinder und insgesamt fünf Enkelkindern. Ihr Schwiegersohn verdient als Hauswart im Spital etwa 2000 Dollar im Monat, ein guter Job. Sein ganzes Geld am Monatsanfang geht direkt in die Rückzahlung der Kredite. Ihre Tochter verdient als Lehrerin in der Erwachsenenbildung umgerechnet 1000 Dollar.
Vom Wachstum ist nichts zu spüren, aber es gibt Hoffnung
Seit April ist die Rezession vorbei. Seitdem hat sich die Wirtschaft leicht erholt. Im Oktober schwächte sich die Erholung wieder ab. Dennoch rechnen viele Ökonomen damit, dass Argentinien im kommenden Jahr wachsen wird. «Von einer Erholung der Wirtschaft ist bei uns noch nichts zu spüren», erklärt Tejada.
Dennoch ist sie überraschend zuversichtlich: «Es findet ein Wandel statt», sagt sie. «Mit Milei haben wir zum ersten Mal die Hoffnung, dass sich etwas ändern kann.» Immer mehr Menschen denken so: 56 Prozent schätzen Mileis Regierung nach einem Jahr als positiv ein, so das Umfrageunternehmen Poliarquía. Die Mehrheit erwartet, dass 2025 besser wird als dieses Jahr. Die katholische Universität (UCA) in Buenos Aires prognostiziert, dass die Armutsrate bis Ende 2024 im Vergleich zum Regierungsantritt von Milei sogar leicht sinken wird.
Tejada hat es satt, wie in den vergangenen zwanzig Jahren vom Wohlwollen der Politik abhängig zu sein. «Mal gab es einen Lebensmittelkorb, mal eine Sonderzahlung zu Weihnachten», so Tejada. Aber oft nur für diejenigen, die politisch auf Linie sind.
Sie zeigt auf die andere Strassenseite. Dort, vor dem Haus des Sportvereins, stehen ältere Frauen Schlange und warten. Nichts bewegt sich. Das sei die typische Politik der Peronisten in den Armenvierteln, sagt sie. So funktioniert das: Der Klubbesitzer vermietet seinen Sportplatz an Schulen. Die Gemeinde bezahlt ihn dafür. Um weiter öffentliche Gelder zu bekommen, verteilt er Essen an alle, die versprechen, ihn zu wählen. Angewidert sagt Tejada: «Am meisten ärgert mich, dass sie uns mit ihren Almosen für dumm verkaufen wollen.»
Die Politik für Frauen funktionierte in der Peripherie nicht
Milei hat die Hälfte der Ministerien aufgelöst, darunter auch das Frauenministerium. Tejada, die im Viertel die Frauengruppe «Mujeres Líderes» (Führungsfrauen) leitet, stört das nicht – aber nicht, weil sie Frauenthemen in der Politik für überflüssig hält. Im Gegenteil. Gewalt gegen Frauen sei ein grosses Problem in Gregorio de Laferrere. Im letzten Monat habe es hier drei Femizide gegeben. Staatliche Massnahmen gegen Gewalt an Frauen seien daher dringend notwendig. Doch das funktioniere nicht: Beim Notruf würden die Frauen vertröstet. Es gebe keine Frauenhäuser, wo sie sich vor gewalttätigen Partnern in Sicherheit bringen könnten. Die Polizei kümmere sich nicht. «Frauenpolitik war vor allem politisiert – aber wenig effektiv», urteilt sie.
Kurz nach ihrer Geburt erkrankte Tejada an Kinderlähmung. Deshalb zog ihre Familie mit ihr als kleinem Mädchen aus der Andenprovinz San Juan nach Buenos Aires. Dort gab es im damals reichen Argentinien eine kostenlose staatliche Behandlung. «Auf höchstem Niveau», sagt sie und hat Tränen in den Augen, als sie erzählt, wie sie als Kind nicht nur operiert und jahrelang medizinisch betreut, sondern auch therapeutisch, schulisch und künstlerisch gefördert wurde. «Wir gingen in Museen, in die Oper, bekamen eine umfassende Bildung und wurden als Behinderte in die Gesellschaft integriert.» Gerne wäre sie Rechtsanwältin oder Psychologin geworden.
Von Mileis Kürzungsprogramm im öffentlichen Gesundheitswesen sei sie bisher nicht betroffen, sagt sie. Die Behandlung im staatlichen Krankenhaus würde normal weiterlaufen. Auch der neue Rollstuhl sei beantragt und werde bald kommen, sagt sie hoffnungsvoll.
Selbst leitende Ärzte können nicht vom Gehalt leben
Dennoch haben die Mitarbeiter der staatlichen Krankenhäuser in den letzten Monaten gegen Milei protestiert. Es ist nicht leicht, mit den Direktoren der Spitäler zu sprechen, denn sie wollten sich nicht den Unmut der Regierung zuziehen, heisst es. Pablo Puccar will trotzdem reden – und zitiert werden. Es ist 7 Uhr 15 morgens. Der 48-jährige Kinderarzt ist Facharzt für innere Medizin und Professor an der Universität von Buenos Aires. Seinen weissen Kittel hat er schon angezogen. Gleich wird er als Stationsleiter im Krankenhaus J. P. Garrahan an den Operationstisch treten.
Das «Garrahan» gilt als Avantgarde-Einrichtung für Kinderheilkunde in ganz Lateinamerika. Viele Kinderkrankheiten werden hier zum ersten Mal behandelt. Bei der Krebsbehandlung von Neugeborenen und bei Transplantationen sei das Krankenhaus führend. Einige der Ärzte seien internationale Koryphäen. Wenn die Ärzte in anderen Kliniken nicht mehr weiterwüssten, schickten sie die Kinder zu ihnen. «Wir sind dann die letzte Hoffnung», sagt er.
Doch die Gehälter und Löhne hielten nicht mit der Inflation Schritt, sagt er. Einen Kaufkraftverlust von 60 Prozent in einem Jahr habe er durch Mileis Politik erlebt. Dabei sei Buenos Aires mittlerweile so teuer wie Madrid. Nach zwanzig Jahren verdient er umgerechnet 2400 Dollar im Monat. «Davon kann ich meine Familie nicht unterhalten», sagt der Vater zweier Töchter.
Immer mehr Ärztekollegen würden ins Ausland gehen und dort im Vergleich zu Argentinien zwischen dem Fünffachen (in Spanien) und dem Zehnfachen (in den USA) verdienen. «Wir verlieren die ganze Erfahrung einer Ärztegeneration», fürchtet Puccar. «Wenn die Ärzte gehen, ist das Krankenhaus in drei Jahren am Ende – und das ist nicht mehr rückgängig zu machen.»
Puccar schätzt, dass zwei Drittel der Ärzte im Garrahan für Milei gestimmt haben. Jetzt würden sie erkennen, dass er es ernst meine, wenn er den Staat zerstören wolle und auch vor den Spitälern nicht haltmache. In allen früheren Krisen Argentiniens sei das pädiatrische Vorzeigekrankenhaus immer verschont geblieben.
Am meisten stört ihn, dass seine Arbeit als Arzt von der Regierung nicht wertgeschätzt werde, dass sie als faule Beamte beschimpft würden, als korrupte Bande. «Dabei arbeiten wir hier alle viel mehr, als in unseren Verträgen steht», sagt er und verabschiedet sich.
Der Widerstand der Gewerkschaften ist geschwächt
Keine zwei Monate werde er sich im Amt halten, hatten Gewerkschafter und Peronisten bei Mileis Amtsantritt prophezeit. Tatsächlich aber sind die gross angekündigten Streiks der einst so mächtigen Gewerkschaften harmlos verlaufen. Inzwischen bemühen sich die Gewerkschaftsführer um gute Beziehungen zur Regierung. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2025 wollen einige von ihnen als Abgeordnete kandidieren. Dafür brauchen sie staatliche Gelder in ihren Wahlkreisen.
Die einzigen Massenproteste, die die Regierung Zustimmung gekostet haben, kamen von den Universitäten. Im April und Oktober gingen Zehntausende Studierende und ihre Familien gegen Kürzungen im Bildungsbereich auf die Strasse.
In Argentinien sei es immer Konsens gewesen, dass öffentliche Universitäten für alle zugänglich sein sollten, sagt Martin Kaufmann, der Rektor der Universidad Nacional de Tres de Febrero (Untref), mit 27 000 Studenten eine mittelgrosse Universität. Anders als im Rest Lateinamerikas finde in Argentinien die grosse Mehrheit der akademischen Ausbildung an öffentlichen Universitäten statt.
Die Universitäten seien traditionell parteigebunden. Sie gehörten zum linken peronistischen Block oder stünden der Zentrumspartei der Radikalen nahe, auch die Trotzkisten hätten Einfluss auf einzelne Universitäten. Seine Universität sei mit den Peronisten verbunden.
Das erstaunt. Denn Kaufmann empfängt in einem Rektoratssaal, in dem sich auch ein französischer Minister wohlfühlen würde. Ein acht Meter hoher Raum mit Designermöbeln, Marmor und Parkett in einem palastartigen Gebäude, in bester Stadtlage, in der Nachbarschaft von Botschaften. Der Saal sei nur zu einem symbolischen Preis gemietet, verteidigt er halbherzig das noble Ambiente.
Er verweist auf die soziale Funktion seiner Universität: 80 Prozent der Studierenden an der Untref in den Randbezirken von Buenos Aires seien die Ersten in ihrer Familie, die studierten. Das Argument der Regierung Milei, dass nur Reiche an öffentliche Universitäten gingen, sei an den Haaren herbeigezogen. Genauso wie der Vorwurf der Intransparenz ihrer Budgets.
Neue Stabilität ist wichtiger als die Budgetkürzungen
Kaufmann beklagt den Mangel an staatlichen Geldern. Man wisse nicht, wie man die Lehrkräfte im kommenden Schuljahr bezahlen solle. Die Gehälter seien niedrig, Unterrichtende würden zu privaten Universitäten abwandern.
Sein Rektorenkollege Carlos Greco von der ebenfalls peronistischen Universidad San Martín ergänzt später im Gespräch: Die Kürzungen seien ärgerlich, aber viel irritierender sei, dass die Gesellschaft keine Solidarität mit den Universitäten zeige. Er ist empört: «Jeder versucht sich zu retten, so gut er kann!»
Viele Argentinier seien gegen Mileis Kürzungen im Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem, sagt der Soziologe Pablo Semán. «Aber fast alle sind der Meinung, dass Argentinien einen Neuanfang braucht.» Und solange Milei die Inflation weiter senke, sei er politisch kaum angreifbar. Milei biete den Menschen etwas, das in den vergangenen Jahren selten gewesen sei: «Stabilität», sagt Semán. «Das ist Balsam für die Seele.»







