Eine 40-Jährige mit Knieprothese, eine 21-jährige Senkrechtstarterin und eine ganze Garde Siegeshungriger der Kategorie Ü 30: In der Königsdisziplin wird bei den Frauen ein Kampf der Generationen ausgetragen.
Wer wettet, hat die Qual der Wahl. Selten war es so schwierig, vor einer Ski-WM-Entscheidung eine Favoritin zu nennen wie vor der Abfahrt der Frauen in Saalbach. In der vergangenen Saison gab es in acht Rennen acht verschiedene Siegerinnen; in diesem Winter standen in bisher vier Rennen drei verschiedene Frauen zuoberst auf dem Podest. Das Feld hat sich zusammengeschoben, es gibt derzeit keine Speed-Queen.
Das hängt auch damit zusammen, dass die Athletin, die diese Bezeichnung für sich beanspruchen könnte, immer wieder die rote Linie überfährt. Sofia Goggia rast nach dem Motto «only the brave», die Welt gehört den Mutigen. Wenn das aufgeht, hat sie mit Abstand den besten Speed. Wenn nicht, zappelt sie wieder einmal im Netz.
Die 32-jährige Italienerin hat eine eindrucksvolle Unfallbilanz, sie spricht sogar mit ihren versehrten Körperteilen. Der bisher letzte Vorfall: Im Februar 2024 brach sie sich das Schienbein und den Knöchel. Beim Comeback im Dezember stand sie als Zweite schon wieder auf dem Podest, in der darauffolgenden Abfahrt küsste sie in einer Hochgeschwindigkeitskurve die Abweisplane am Fangnetz und sprach danach von einem perfekten Sturz. Eine Woche später siegte sie.
Jede zweite Siegerin landete im Spital
Verletzungen sind generell ein Grund dafür, dass es keine klare Hierarchie gibt. Die Hälfte der Athletinnen, die im Winter 2023/24 eine Abfahrt gewannen, landete später im Spital: Jasmine Flury, Corinne Suter, Mikaela Shiffrin, Sofia Goggia. Flury hätte in Saalbach als Weltmeisterin von 2023 einen fixen Startplatz gehabt, ist aber nicht fit genug, um zu fahren. Shiffrin bestreitet zurzeit keine Speed-Rennen.
Suter ging die Rückkehr deutlich konservativer an als Goggia; die erste Abfahrt des Winters beendete die Schwyzerin im 21. Rang. Doch sie tastete sich Rennen für Rennen ans Limit heran, und mit jedem Fortschritt wuchs das Selbstvertrauen. Inzwischen ist sie wieder fähig, aufs Podest zu fahren. Zusätzliches Selbstvertrauen dürfte sie aus der Tatsache schöpfen, dass sie seit 2019 an jedem Grossanlass mindestens eine Medaille gewann.
Für Spannung sorgt auch die Tatsache, dass die Österreicherinnen aus einer langen Baisse gefunden haben. Drei Saisons in Folge waren sie ohne Sieg in der Königsdisziplin geblieben. Erst im letzten Rennen des vergangenen Winters brach Cornelia Hütter den Bann – am WM-Berg von Saalbach. Sie sicherte sich damit auch den Sieg in der Disziplinenwertung. Dass die Österreicherinnen fähig sind, ihren Heimvorteil zu nutzen, hat bereits Stephanie Venier am Donnerstag mit WM-Gold im Super-G bewiesen.
Ein weiterer Grund für das diffuse Bild an der Weltspitze ist die Tatsache, dass die älteren Athletinnen noch nicht bereit sind, Platz für die Jungen zu machen. Federica Brignone, 34, verbesserte in diesem Jahr zweimal den Rekord der ältesten Abfahrtssiegerin im Weltcup. Stephanie Venier, 31, ist die älteste Weltmeisterin im Super-G. Lara Gut-Behrami führt mit 33 Jahren die Disziplinenwertung im Super-G an. Sämtliche Abfahrtssiegerinnen dieses Winters waren mindestens 32-jährig.
Das entspricht einer allgemeinen Entwicklung im alpinen Rennsport: Die Karrieren dauern länger. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich für eine ganze Generation europäischer Skisportler 2026 erstmals die Gelegenheit bietet, Winterspiele im Alpenraum zu erleben. Lara Gut-Behrami sprach schon vor zwei Jahren vom Rücktritt, doch nun sagt sie, es reize sie, die Karriere an den Olympischen Spielen 2026 von Mailand-Cortina zu beenden.
Diese Spiele scheinen auch eine besondere Anziehung auf jene Frau auszuüben, die in diesem Winter die Hierarchie zünftig durcheinandergewirbelt hat: Lindsey Vonn. Die Amerikanerin ist mit 40 Jahren und einer Teilprothese im rechten Knie nach fast sechsjähriger Absenz zurückgekehrt.
Dass es dabei nicht nur um PR in eigener Sache oder für ihren Sponsor ging, zeigte sich schnell: Das erste Rennen beendete sie im 14. Rang, danach wurde sie Sechste und Vierte. Vonn gehört damit zu den Athletinnen, die in Saalbach eine Medaille gewinnen können. Ihr grosses Ziel aber ist Cortina 2026. Auf der Tofana-Piste, wo es in einem Jahr um olympische Ehren geht, hat sie sagenhafte zwölf Siege errungen.
Eine italienische Abfahrtsweltmeisterin gab es letztmals 1932
Vonns Comeback und die Beharrlichkeit diverser Athletinnen der Kategorie Ü 30 können aber nicht verhindern, dass junge Athletinnen nach vorne drängen. Am eindrücklichsten taten dies Lauren Macuga, 22, und Malorie Blanc, 21. Die Amerikanerin raste im Super-G von St. Anton zum Sieg und bestätigte diesen nun mit Bronze im WM-Rennen. Die Walliserin belegte am selben Ort in der Abfahrt Rang zwei. Und das bei ihrem erst zweiten Einsatz im Weltcup.
Und wer wird nun Weltmeisterin?
Könnte man sich Goldmedaillen verdienen, stünde Sofia Goggia an erster Stelle. Sie gewann schon viermal die Disziplinenwertung in der Abfahrt und war 2018 die erste italienische Olympiasiegerin in der Königsdisziplin. Jetzt wäre es an der Zeit, wieder einmal Historisches zu erreichen: Eine italienische Abfahrtsweltmeisterin gab es letztmals 1932, also quasi in der Urgeschichte des Skirennsports.