Bienenhäuser statt Ampeln, Schirmbäume statt Schaltergebäude: Das «Vuebelle»-Projekt am Hönggerberg will einen Verkehrsknotenpunkt naturnah nachbilden – und so die Artenvielfalt fördern. Auch andere Gemeinden sind an der Idee interessiert.
Auf der Ruggenacherwiese am Hönggerberg in Zürich sind die Maulbeerbäume schon von weitem zu erkennen. Dünn ragen ihre Stämme aus dem bunten Wiesenteppich zwischen Sportplatz und Friedhof hervor. Die jungen Baumkronen sollen einst ein Blätterdach bilden. Dazwischen spriessen kleine Fruchtbäume. Ein Holzsteg führt durch das Gras, er hat die Form eines abgerundeten Dreiecks – genau so wie das denkmalgeschützte Dach des Tramwartepavillons am Bellevue.
Das ist kein Zufall. Denn bald soll die Ruggenacherwiese aussehen wie einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte in Zürich. Fast zumindest. Denn hier entsteht das «Vuebelle», ein grüner, ruhiger Zwilling des Bellevueplatzes. Weder brummende Motoren noch quietschende Tramräder sind zu hören. Stattdessen lauscht man dem Vogelgezwitscher. Hin und wieder durchbricht das ferne Dröhnen eines Flugzeugs die Idylle.
Das Pilotprojekt soll die Biodiversität im Stadtgebiet fördern, also die biologische Vielfalt der Lebewesen und der Natur. Dazu wird mit verschiedenen Baumsorten wie Kastanien-, Apfel- und Nussbäumen, Wildsträucherhecken und anderen natürlichen Materialien der Bellevueplatz nachgebaut – in Originalgrösse und auf einer Fläche von 8700 Quadratmetern. Mit Bienenhäusern statt Ampeln, Schirmbäumen statt ZVV-Schaltergebäuden und einer Totholzecke statt Abfalleimern.
Ein Gegengewicht zu Beton
Hinter dem Projekt steht der gemeinnützige Verein Bee’n’Bee, der sich für die Förderung der Biodiversität und Artenvielfalt in der Schweiz einsetzt. Er gewann im Jahr 2021 am Projektwettbewerb «Für Züri» der Stadt Zürich 250 000 Franken. Das Geld stammt aus der Sonderdividende der Zürcher Kantonalbank, die 2020 anlässlich ihres 150-Jahre-Jubiläums 150 Millionen Franken an Kantone und Gemeinden ausschüttete.
Den Acker am Hönggerberg bekam Bee’n’Bee von der Stadt Zürich zur Verfügung gestellt. Während dreier Jahre planten die Initianten das Projekt und setzten es um. Stehen soll es für acht Jahre.
Markus Schaub ist Geschäftsführer des Trägervereins Bee’n’Bee und Initiator von «Vuebelle». Er sagt: «Wir wollen aufzeigen, dass sich Stadt, Naturpark und Biodiversität nicht gegenseitig ausschliessen müssen.»
Doch wieso gerade der Bellevueplatz in Zürich?
«Das Bellevue ist ein Hauptverkehrsknotenpunkt in Zürich», sagt Schaub. Beim Pavillon mit dem markanten Dach fahren täglich 50 000 Autos vorbei, 250 000 Menschen steigen hier auf eine der sieben Tramlinien um. «Es herrscht oft eine grosse Hektik. Hier braucht es ein naturnahes Gegengewicht», betont Schaub. Eines wie das «Vuebelle» am Hönggerberg. «Ein Ort im Grünen, um innezuhalten, abzuschalten, zu geniessen», sagt er. Nicht als Ersatz des Bellevues, sondern als Ergänzung.
Wiese darf nicht verändert werden
Dort, wo am Hönggerberg die Michelstrasse auf die Kappenbühlstrasse trifft, sieht man über die gesamte Anlage, einen Teil der Stadt bis hinunter zum Zürichsee. Dahinter ragen die Alpen empor.
«Hier links wäre die Theaterstrasse mit ‹Sternengrill›, UBS und Galli Uhren Bijouterie», sagt Schaub und zeigt auf die Grünfläche neben der Kappenbühlstrasse. Noch ist dort vor allem Wiese, etwas weiter hinten sind kleine Schrebergärten zu erkennen. «Dort, wo am Bellevue zu Stosszeiten massenweise Menschen durcheilen, sind hier Leute am Gärtnern», sagt Schaub sichtlich stolz.
Die fünf Plätze der Schrebergärten sind schon vermietet. Doch wer möchte, kann für 100 Franken eine Patenschaft für einen Quadratmeter «Vuebelle» erwerben. Mit dem Geld soll der Park auch für die nächsten Jahre finanziert werden.
Paten dürfen ihren Quadratmeter zwar besuchen und sich laut Website des Projekts «an der reichhaltigen Natur erfreuen». Doch neue Pflanzen säen oder eigenes Gemüse anbauen ist ausserhalb der Kleingärten verboten.
Grund dafür ist, dass die Wiese mit einheimischem Saatgut angesät wurde. Dieses stammt von einer 15 Kilometer entfernten Wiese hinter dem Üetliberg. So soll die genetische Vielfalt der Arten und Ökotypen erhalten werden. Einige gelb leuchtende Rapspflanzen drücken noch immer vom vorherigen Acker durch. «Es ist ein eigenes System, das sich selbst reguliert», erklärt Schaub.
Trotzdem solle sich die Bevölkerung aktiv in die Entstehung des «Vuebelles» einbringen können, sagt Schaub mehrmals. Sei es als freiwilliger Helfer oder als Schulklasse. Wie die Schülerinnen und Schüler der dritten Klasse der Kantonsschule Uetikon, die den Brunnen mit den drei Knaben am Bellevue nachgebaut haben. Wasser hat er zwar keinen, dafür dienen Kies und Sand am Boden als Nistraum für Wildbienen.
Natur trifft auf Wissenschaft und Kunst
Schliesslich soll das Projekt nicht nur schön aussehen und Flora und Fauna zugutekommen, sondern auch der Wissenschaft. Eine Forschungsgruppe der Fachhochschule Nordwestschweiz untersucht, wie sich biodiverse Gebiete wie das «Vuebelle» einerseits und städtische Gebiete andererseits auf die Gene und das Verhalten von Honigbienen auswirken.
In einer anderen Studie wird eine Forschungsgruppe der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zusammen mit Masterstudierenden der Fachhochschule Bern ermitteln, wie sich ein biodiverser Raum auf Menschen auswirkt. Dazu messen sie Hautspannung und Hirnströme ihrer Probanden.
Darüber hinaus wird Ende Juni eine Theaterperformance aufgeführt, die ab Juli als Videoinstallation auf dem Hönggerberg gezeigt wird.
«Das ‹Vuebelle› ist eine Schnittstelle zwischen Stadt, Forschung und Kunst», sagt Markus Schaub, der selbst Künstler ist. Auf dem Park verteilte QR-Tafeln sollen die nötigen Informationen liefern. «Wir möchten auf eine spielerische Weise aufzeigen, wie die Vielfalt der Natur in der Stadt gefördert werden kann.» Das fordert Schaub auch von der Politik: «Man muss versuchen, die Leute zu verbinden und zu erklären, wieso Biodiversität wichtig ist.»
Es bleibt abzuwarten, ob ein grünes «Bellevue» tatsächlich ein nachhaltiges Verständnis in den Köpfen der Stadtzürcher Bevölkerung bewirken kann. So hoch oben im Grünen auf dem Hönggerberg. Sicher ist nur, dass die gepflanzten Bäume stehen bleiben werden.
Schaub ist zuversichtlich. Man sei bereits in Gesprächen mit zwei anderen Gemeinden, die an entsprechenden Projekten interessiert seien. Welche das sind, darf er nicht verraten. «Vuebelle» sei ein guter Anfang.
Ab Freitag um 16 Uhr können Interessierte den Naturpark auf dem Hönggerberg besuchen. Dann wird er offiziell eröffnet.