Stefan Gelbhaar verlor seine Direktkandidatur und musste auf seinen Platz auf der Landesliste verzichten. Doch die wichtigste Betroffene existiert nicht. Der Fall könnte auch Robert Habeck beschädigen.
Die Geschichte des Politiker Stefan Gelbhaar hatte alle Zutaten für einen Skandal. Ein Mitglied der Grünen, denen ein achtsamer Umgang bekanntlich besonders wichtig ist, wird von mehreren Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigt. Er ist Direktkandidat für das deutsche Parlament im Kreisverband Berlin Pankow, einer Hochburg klimabewegter Lastenradfahrer, in der das Kreuz bei den Grünen die Standardsetzung und alles andere eine Abweichung ist. Wen die Partei dort aufstellt, hat seinen Sitz im deutschen Parlament so gut wie sicher.
Nun aber stellt sich heraus: Der zentrale Vorwurf der sexuellen Belästigung gegen den 48 Jahre alten Gelbhaar war höchstwahrscheinlich erfunden. Und auch an den anderen Vorwürfen gegen den Mann bestehen Zweifel. Besonders pikant ist, dass Gelbhaar wegen der Anschuldigungen zunächst auf den zweiten Platz auf der Landesliste für den Bundestag verzichtete, und zwar für einen ganz besonderen Kandidaten: Andreas Audretsch, den Wahlkampfmanager von Robert Habeck.
Über die Vorwürfe gegen Gelbhaar berichtete in den vergangenen Monaten vor allem der Rundfunk Berlin-Brandenburg, eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt. Die Berichte basierten auf Aussagen mehrerer angeblich betroffener Frauen, die eine eidesstaatliche Versicherung abgaben. Wer das tut, der muss die Wahrheit sagen, andernfalls macht er sich strafbar. Doch nach Recherchen des Berliner Tagesspiegels brach die Geschichte grösstenteils in sich zusammen. Das zentrale Opfer gibt es offenbar gar nicht, wie der Rundfunk Berlin-Brandenburg selbst mitteilte.
«Mittlerweile steht fest», schrieb der Sender am Freitagabend, «Anne K. war nicht diejenige, für die sie sich ausgab. Mit hoher Wahrscheinlichkeit existiert diese Frau gar nicht.» Noch dazu verbirgt sich dahinter womöglich eine grüne Bezirksabgeordnete. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg hat Strafanzeige gegen die Frau gestellt.
Manche sprechen nun von einer Intrige
Damit bleiben noch die Vorwürfe anderer Frauen. Die aber wiegen viel weniger schwer. Sie haben laut dem Sender eine «deutlich geringere Fallhöhe». Zudem muss man nun daran zweifeln, ob sie überhaupt stimmen. Laut dem Sender gebe es Hinweise, dass einige der bei der Ombudsstelle der Grünen eingegangenen «anonymen Meldungen» ebenfalls von der Betrügerin stammen könnten.
Gelbhaar selbst hat die Vorwürfe stets bestritten. Die ehemalige Vorsitzende der grünen Bundestagstagsfraktion, Kerstin Müller, spricht mittlerweile offen von einer «Intrige». Sie sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, hier sollte «wahrscheinlich eine nicht genehme Person beschädigt und aus dem Verkehr gezogen werden».
Auch die grüne Parteizentrale reagierte. Die Parteivorsitzenden Franziska Brantner und Felix Banaszak nannten den Vorgang «gravierend». Wer falsche Aussagen unter Eid tätige, begehe nicht allein eine Straftat, sondern füge auch der Partei «erheblichen Schaden» zu. Die Namen der grünen Bezirksvorsitzenden, die der Lüge bezichtigt wird, nannten die beiden allerdings nicht.
Sie erwähnten auch den Namen Gelbhaar nicht. Dabei ist seine Parteikarriere vollständig zerstört. Im Dezember verzichtete er zugunsten von Andreas Audretsch auf seinen Listenplatz für das deutsche Parlament, Anfang Januar verlor er auch die Direktkandidatur des Kreisverbandes Berlin Pankow. Ob die Partei ihn wieder aufstellen kann, ist zudem aufgrund der Fristen ungewiss.
Kritik am Umgang der Partei mit Gelbhaar
Der Fall könnte auch Robert Habeck beschädigen. Laut der Berliner Zeitung verzichtete Gelbhaar nicht unbedingt aus freien Stücken auf seinen Platz auf der Landesliste. Vorher habe es ein Gespräch mit der Bundesgeschäftsstelle gegeben. Nun stellen sich eine Reihe von Fragen: Wollte die Partei den Wahlkampfmanager ihres Spitzenkandidaten mit einem sicheren Sitz im Bundestag versorgen? Wusste man in der Partei Bescheid, wie wenig glaubhaft einige Vorwürfe gegen den Mann waren und nahm es trotzdem hin?
Klar ist schon jetzt: Es gibt bereits länger Kritik daran, wie die Partei mit dem Fall umging. «Unsere Partei kann nicht jemanden wegen unbewiesener Vorwürfe rausschmeissen», sagte der Berliner Abgeordnete Andreas Otto von den Grünen vor einigen Tagen.
Tatsächlich handelt es sich um einen Skandal. Nur um einen ganz anderen als zunächst vermutet.