Was sich mit dem Stromabkommen verändern würde. Und wieso die Branchenvertreter so vehement für eine Anbindung sind.
Wäre die europäische Strominfrastruktur eine Person, so hätte sie mittlerweile das Pensionsalter erreicht. 1958 wurden in Laufenburg im Kanton Aargau erstmals die Ländernetze Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz zusammengeschaltet – der Grundstein für einen gemeinsamen Strommarkt war gelegt, die Schweiz war mittendrin.
Heute ist die Schweiz über 41 Stromleitungen mit dem Ausland verbunden. Die Integration, die physikalisch und geografisch schon lange Realität ist, soll auch institutionalisiert werden. Ein neues Stromabkommen ist Teil der Verhandlungen, die die Schweiz mit der EU hinsichtlich der Weiterführung ihrer Beziehungen im Dezember abgeschlossen hat.
Das Parlament berät zwar voraussichtlich erst 2026 über das Vertragspaket, doch die Strombranche wähnt sich schon im Abstimmungskampf. Michael Frank, Direktor beim Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, sagt: «Je besser die Schweiz in den europäischen Strommarkt integriert ist, desto resilienter, sicherer und günstiger ist ihre Stromversorgung.»
Die Position der EU ist klar: Scheitert das Abkommen, «gibt es keinen Plan B»: Das sagte Petros Mavromichalis, der EU-Botschafter für die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein, vergangene Woche an einem Branchentreffen in Bern. Entweder unterzeichne die Schweiz dieses Stromabkommen, oder sie werde künftig wie andere Drittstaaten behandelt. «Das Zeitfenster für ein Stromabkommen ist nicht ewig offen», sagte Mavromichalis.
Grosse Begeisterung fürs Abkommen aus der Branche
Die Branche hat diese Botschaft verstanden. Ihre Vertreter überbieten sich beinahe in der positiven Beurteilung der Verhandlungsresultate.
Werner Luginbühl, Altständerat und Präsident der Aufsichtsbehörde Elcom, sagte am Branchentreffen, er sei positiv überrascht, wie viel die Schweizer Verhandler im Strombereich herausgeholt hätten.
Die Netzbetreiberin Swissgrid unterstreicht den Faktor Rechtssicherheit. Über eine Teilnahme am Strombinnenmarkt könnte die Schweiz gleichberechtigt an der Entwicklung neuer Regeln teilnehmen, womit ein Auseinanderdriften der Rechtsräume verhindert würde.
Die Axpo argumentiert, das Stromabkommen würde die Basis für eine sichere Energieversorgung schaffen, da die Nachbarländer die Grenzkapazitäten nicht mehr einschränken könnten und die Schweiz so auf eine gewisse Stabilität bei den Stromimporten zählen könnte.
Die BKW schreibt auf Anfrage, ein Stromabkommen brächte über zwei Wege tiefere Kosten für die Endverbraucher und damit einen volkswirtschaftlichen Nutzen. Erstens könnte die Schweiz dank stabilen Grenzkapazitäten ihre eigenen Reserven zur Stromproduktion klein halten. Zweitens würde eine volle Einbindung das Risiko senken, dass die Schweiz Notmassnahmen zur Stabilisierung des Netzes ergreifen muss.
Amédée Murisier, Leiter des Geschäftsbereichs Schweiz bei der Alpiq, sagt, auch die EU würde von der Einbindung der Schweiz profitieren. Allen voran den Schweizer Wasserkraftwerken würde eine Schlüsselrolle bei der Stabilisierung des Stromnetzes zukommen: «Unsere Kraftwerke sind sozusagen wie Batterien, die es ermöglichen, die schwankende Produktion von Sonnen- und Windenergie in das Energiesystem zu integrieren.»
Langer Weg zum Ziel
In einem normalen Jahr produziert die Schweiz im Winter weniger Strom, als sie eigentlich braucht. Sie muss die fehlende Menge importieren.
Bis anhin ist die Schweiz aber nicht gleichberechtigt: Sie ist von gewissen Handelsmärkten ausgeschlossen und fehlt in einigen Gremien zur technischen Zusammenarbeit. Die EU beharrt auf vergleichbaren Spielregeln für alle Mitglieder. Allen voran der Umstand, dass Schweizer Endkunden ihren Versorger nicht frei wählen können, liesse sich nicht mit einem gemeinsamen europäischen Strommarkt vereinbaren.
Seit 2007 haben die Schweiz und die EU gleich mehrfach versucht, ein Stromabkommen zu schliessen. Die EU verknüpfte dessen Abschluss aber zuletzt mit anderen institutionellen Fragen, was den Verhandlungsprozess erheblich erschwerte. Beim Stromabkommen kam es daher nie zu konkreten Ergebnissen.
Nun scheint die EU offenbar eingesehen zu haben, dass sie der Schweiz entgegenkommen muss, wenn das Abkommen an der Urne eine Chance haben soll.
Erste Eckpunkte bekannt, aber viele offene Fragen zur Praxis
Der konkrete Verhandlungstext ist noch nicht öffentlich. Der Bund hat aber bereits verlauten lassen, wie sich die Schweizer Stromwirtschaft bei einer Annahme verändern könnte:
- Swissgrid, die Betreiberin des Übertragungsnetzes, wird vollständig in die europäischen Gremien zugelassen. Die Zusammenarbeit beim Netzausgleich verläuft damit nahtlos.
- Der Schweizer Strommarkt wird geöffnet. Endverbraucher dürfen ihren Stromlieferanten frei wählen, setzen sich damit aber auch Preisschwankungen aus. Freiwillig können Verbraucher aber in der Grundversorgung bleiben, wo die Strompreise reguliert sind.
- Wer am Binnenmarkt teilnimmt, darf gegenüber den Nachbarstaaten keine Exportbeschränkungen beim Strom beschliessen: Alle produzieren für alle. Die EU gewährt der Schweiz allerdings gewisse Ausnahmen, etwa beim Bau von Reservekraftwerken für Strommangellagen.
- Bei der Wasserkraft darf die Schweiz ihre Praxis beibehalten, nach welcher die Stromproduzenten sehr eng mit Bund, Kantonen und Gemeinden zusammenspannen. Das Abkommen enthält keine Vorgaben zu Wasserzinsen und der Vergabe von Konzessionen.
Wie diese Grundsätze in der Praxis dann umgesetzt werden, ist offen. Auch der Wortlaut im Verhandlungstext dürfte kaum konkreter ausfallen. Die genauen Regeln, beispielsweise, mit welchen Einschränkungen Endkunden von der freien Wahl des Versorgers zur Grundversorgung und wieder zurück wechseln dürfen, müsste die Schweiz innenpolitisch festlegen.
Ungewisse Zukunft bei Scheitern
Doch was, wenn das Stromabkommen crasht?
Für die Schweiz steht viel auf dem Spiel. Die weitere Teilnahme an den Gremien zur technischen Zusammenarbeit müsste separat beurteilt werden. Wie sehr die EU der Schweiz hier noch entgegenkommen würde, ist ungewiss.
Und auch in Bezug auf die Versorgungssicherheit blicken viele Experten mit Sorgen in die Zukunft. Ab 2026 ist in der EU eine Richtlinie in Kraft, wonach die Mitgliedstaaten mindestens 70 Prozent der Kapazität ihrer Netzelemente für den Handel zwischen EU-Ländern zur Verfügung stellen müssen. Wie zuverlässig die Schweiz dann noch Strom importieren kann, ist ungewiss. Damit ihr im Winter nicht der Strom ausgeht, müsste sie die Produktionskapazitäten rasant ausbauen.