Die Südkoreanerin Han Kang ist mit dem Roman «Die Vegetarierin» weltberühmt geworden. Der Körper einer Frau wurde darin zum Schlachtfeld um Fleischverzicht, Sex und Wahnsinn. Der neue Roman «Griechischstunden» dagegen kommt ganz zart und heiter daher.
Sie ist verstummt, und er ist beinah erblindet. In Han Kangs neuem Roman treffen zwei Zurückgezogene aufeinander, eine Frau und ein Mann. Sie lernen sich in einer Sprachschule in Seoul kennen, wahren zunächst Distanz und finden dann doch ganz langsam zueinander. Der Mann gibt Abendkurse in Altgriechisch, einer Sprache ohne Sprechen. Er liebt die Stille.
Dazu passen auch seine ausgedehnten Lektüren platonischer Dialoge und buddhistischer Sutren, wie er in Rückblicken auf sein Leben und in drei langen Briefen erzählt. Diese Kapitel wechseln sich mit den Erinnerungen seiner Schülerin ab, bevor sich beide am Ende erzählend verbinden.
Ein Roman über das Sprechen
Die Frau verlor vor einiger Zeit urplötzlich ihre Sprache. Ein Psychologe, den sie aufsucht, führt dies darauf zurück, dass kürzlich ihre Mutter gestorben ist und sie das Sorgerecht für ihren Sohn an ihren Ex-Mann verloren hat. Sie aber notiert: «So einfach ist es nicht.» Weil sie nicht spricht, wird die Frau von einer personalen Erzählerin unaufdringlich begleitet. Sie berichtet, dass die Frau Lyrikerin gewesen sei und sich nun mit Altgriechisch beschäftige, «weil sie unbedingt aus eigenem Willen ihre Sprache wiederfinden möchte».
Mit «Griechischstunden» hat Han Kang einen Roman über das Sprechen geschrieben, der zunächst aber von der Stille handelt und seinen sehr für sich lebenden Figuren viel Raum gibt. Es klingt, als habe Han Kang den Roman nicht einfach erarbeitet, sondern tiefenmeditiert. Atmen spielt darin eine wichtige Rolle, und so wirken die Abendkurse öffnend auf die Verstummte. Ein Sprachkurs als Körpertherapie.
Offenheit entsteht auch, weil weder Schülerin noch Lehrer, die beide alterslos wirken, aber in ihren Dreissigern sein dürften, einen Namen haben. Das gibt beiden Figuren etwas Unbenanntes, Offenes. Es ist fast so, als trete man beim Lesen in sie ein. Ist man eingetreten, erlebt man eine in Han Kangs Büchern stets sehr intensiv ausgearbeitete Verbindung von Körper und Seele. Äussere Verletzungen wirken direkt nach innen, wie auch innere Wunden stets nach aussen treiben.
Das Glück echter Verbindung
In Han Kangs Welt-Bestseller «Die Vegetarierin», für den sie 2016 gemeinsam mit ihrer Übersetzerin den Man Booker International Prize erhielt, war es der Körper der verzweifelten Yeong-Hye, der zu Schauplatz und Schlachtfeld einer Geschichte um Fleischverzicht, Sex und Wahnsinn wurde.
Auch im auf Koreanisch noch vor der «Vegetarierin» erschienenen Roman «Deine kalten Hände» gipste ein Künstler die Körper und Hände seiner Modelle ab, in der irrigen Hoffnung, damit ein Stück Seele einfangen zu können. Die kurzen Notate in Han Kangs Band «Weiss» wiederum kreisten um den Tod eines zu früh geborenen Babys und den Wunsch, die Seele des kleinen Wesens in reinweissen Dingen zu bergen.
Dass Körper auch politisch versehrt werden können, schwingt nicht nur in Han Kangs wiederkehrenden Beobachtungen zu den Leiden weiblicher Körper im Patriarchat mit, sondern sehr viel grossräumiger in den Schilderungen des mit militärischer Gewalt niedergeschlagenen Studentenaufstandes von Gwangju gegen die Diktatur im Jahr 1980 («Menschenwerk») und in ihrem neuesten Roman, der auf Französisch «Impossibles Adieux» heisst.
Im Vergleich zu diesen Geschichten von Wahn und Tod und auch von den politischen Dramen der jüngeren koreanischen Geschichte fällt der Roman «Griechischstunden» sehr viel privater, zarter und zum Ende hin geradezu freudvoll aus. Er ist ein ruhiges Werk, das davon erzählt, wie Kontakt verstört, aber auch wieder aufgenommen werden kann. Am Ende glückt echte Verbindung. Das Ende zweifacher Stille – Griechischstunden machen es möglich.
Han Kang: Griechischstunden. Roman. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau-Verlag, Berlin 204 S., Fr. 33.90.