Das Deutsche Reich lag in Scherben, das Ende des Zweiten Weltkriegs war nur noch eine Frage der Zeit. Und Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, verhandelte in Österreich über eine Nachkriegsregierung.
Als Hitler an seinem 56. Geburtstag, dem 20. April 1945, ein letztes Mal seine Getreuen in der Reichskanzlei um sich versammelt hatte, war die Stimmung gedrückt. Hitler hatte sich entschlossen, im Endkampf in Berlin zu bleiben, anstatt nach Berchtesgaden zu verlegen. Wenige Tage darauf, am 25. April, war Berlin eingeschlossen. «Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen», hatte er Anfang 1945 seinem Luftwaffenadjutanten prophezeit. Und nach diesem Motto handelte er.
Ernst Kaltenbrunner, Oberösterreicher aus dem Innkreis, als Chef des Reichssicherheitshauptamtes die Nummer zwei im NS-Terrorregime, war da schon nicht mehr in Berlin. Am 18. April hatte er sich von Adolf Hitler verabschiedet und seine Dienststelle von Berlin nach Salzburg verlegt. Noch bevor er dort eintraf, machte Kaltenbrunner in Altaussee am 21. April Station. Für die nächsten drei Wochen sollte der Kurort zu seinem entscheidenden Zufluchtsort werden.
Kaltenbrunner wollte seine Haut retten, aber er hatte ungeachtet der aussichtslosen militärischen Lage noch einiges vor. Dazu gehörten weit ausgreifende politische Pläne für Nachkriegsösterreich, eine gemeinsame Wendung mit den Angloamerikanern gegen die Russen und das Ziel, die zusammengeraubten Vermögensschätze des Reichssicherheitshauptamtes, insbesondere ein beträchtliches Bargeldvermögen in Falschgeld, in ein sicheres Versteck zu bringen. Alle Fäden liefen damals bei ihm in Altaussee zusammen.
Kaltenbrunner war seit Januar 1943 als Nachfolger Reinhard Heydrichs Chef des Reichssicherheitshauptamtes. Die Wahl war nicht zuletzt auf ihn gefallen, weil Hitler nie mehr einen so eigenständigen und machtversessenen Chef des Amtes wie Heydrich haben wollte. Kaltenbrunner war von seiner äusseren hünenhaften und massigen Gestalt mit dem von Mensurnarben zerfurchten Gesicht eine bedrohliche Erscheinung. Er war misstrauisch, umgab sich nur mit wenigen Getreuen.
Ein treuer Gefolgsmann Himmlers
Seine Vertrauten beschrieben ihn als eher sentimental. Kaltenbrunner habe es geliebt, die Abende in vertrauten Runden zu verbringen, wo reichlich Wein geflossen sei. Im Chef seines Amtes VI, dem jungen, ehrgeizigen Walter Schellenberg, war ihm allerdings ein Rivale entstanden, dessen engen Draht zu Heinrich Himmler er misstrauisch beobachtete, und dies ausgerechnet auf dem Gebiet der Auslandsspionage, die ihn am meisten interessierte.
Kaltenbrunner war ein getreuer Gefolgsmann Himmlers, ein Nationalsozialist durch und durch. Die Absetzbewegungen Himmlers, dessen Kontaktaufnahmen mit Folke Graf Bernadotte in Schweden und der Versuch, durch den Freikauf von Juden Devisen zu ergattern, waren weitgehend an Kaltenbrunner vorbeigelaufen.
Jetzt, wo das Reich in Scherben lag und das Kriegsende nur noch eine Frage der Zeit war, zeigte Kaltenbrunner Aktivitäten, die vorher niemand bei ihm vermutet hätte. Schon am 21. April tauchte Kaltenbrunner in Altaussee auf, wo er seine Geliebte Gisela Gräfin von Westarp, eine Sekretärin aus dem Reichssicherheitshauptamt, im Kuhstall des Hohenloheschen Jagdhauses einquartiert hatte. Dort hatte sie im März Zwillinge zur Welt gebracht.
Zu keinem anderen Zeitpunkt der Geschichte des Ortes war das idyllische Altaussee so überlaufen und kriegsstrategisch von so zentraler Bedeutung wie in den letzten April- und ersten Maiwochen des Jahres 1945. Sogar das deutsche Auswärtige Amt hatte die Dienststelle des Gesandten Günther Altenburg von Wien nach Altaussee ausgelagert und einen Angestellten bestimmt, der die Aufgabe hatte, sich um die im Seehotel untergebrachten rumänischen und bulgarischen Exilregierungen zu kümmern. Dort wartete zudem eine Gruppe von Schauspielern um Ernst von Klipstein und Johannes Heesters auf das Kriegsende, um wenige Wochen später mit dem Theaterbetrieb in dem Kurort weiterzumachen.
Bis zur letzten Patrone
Nach Altaussee hatte Kaltenbrunner seine engsten Vertrauten aus dem Reichssicherheitshauptamt mitgenommen: Wilhelm Waneck, Werner Göttsch und Wilhelm Höttl. Der Wiener Höttl war bereits mit seiner Familie in Altaussee ansässig. Er war an der Seite Kaltenbrunners im Sicherheitsdienst bis zum stellvertretenden Gruppenleiter Balkan in dem für die Auslandsspionage zuständigen Amt VI des Amtes aufgestiegen. Höttl hatte sich Kaltenbrunners Vertrauen erschlichen und in weiser Voraussicht schon seit geraumer Zeit enge Kontakte in die neutrale Schweiz ins Umfeld von Allen Dulles geknüpft, dem Gesandten des US-Auslandsgeheimdienstes Office of Strategic Services.
Über ein Netzwerk österreichischer Emigranten wollte Höttl seit 1943 eine Plattform für Sonderfriedensverhandlungen und ein Nachkriegsösterreich in den Grenzen von 1938 aufbauen. Das war der Grundgedanke des «Unternehmens Herzog», und es war dabei klar, dass Kaltenbrunner selbst den Herzog spielen sollte. Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe mit Edmund Glaise-Horstenau, General und einst Minister in der Schuschnigg-Regierung, und dem Sondergesandten Südost, Hermann Neubacher, sollte die Nachkriegsregierung um Kaltenbrunner bilden.
Auch Allen Dulles liess sich durch diese Aktivitäten auf falsche Fährten locken. In einem Memorandum vom März 1945, das Präsident Roosevelt vorgelegt wurde, heisst es, dass sich die «Oppositionsgruppe innerhalb der österreichischen SS» für eine «Übergangsregierung» empfehlen wolle, die den Endkampf in der Alpenfestung bis zur letzten Patrone vermeiden und dafür die Übergaben der staatlichen Gewalt an die Westalliierten organisieren wolle.
Höttl schreckte für seine neue Legende auch vor dreisten Lügen nicht zurück und präsentierte sich gegenüber den Amerikanern als überzeugter Nazigegner, Katholik und «Stimme der Vernunft», die gegen die Kriegstreiber in der Nazipartei aufgestanden sei, um mit einem Übergangsregime den Fanatikern im Alpenreduit entgegenzutreten.
In der Schweiz im Gefängnis
Noch am 13. April 1945 war Höttl mit einem gefälschten Pass und dem Grossindustriellen Fritz Westen und mit Unterstützung des Polizeikommandos in St. Gallen ohne gültiges Visum eingereist. Und dies, obwohl Höttl schon im September 1944 wegen seiner wichtigen Funktionen in der SS und im SD auf die Liste der zurückzuweisenden Ausländer gesetzt worden war.
Der Kantonspolizei Zürich gab er an, er habe Verbindung aufgenommen, «um das Reduit in Deutschland verhindern zu können». Höttl wurde im Zürcher Hotel Schweizerhof verhaftet, war kurzzeitig in der kantonalen Polizeikaserne in Zürich inhaftiert und wurde dann in Kreuzlingen über die deutsche Grenze verbracht, wo er sich von einem Dienstwagen abholen liess.
Das politische Kalkül von Höttl und Kaltenbrunner war einfach. Kaltenbrunner spekulierte auf einen Bruch der Anti-Hitler-Koalition und wollte sich den Angloamerikanern im Kampf gegen die Russen als künftiger Bundesgenosse andienen. Er hatte auch dafür Vorsorge geleistet. Eine völlige Neuordnung des Amtes VI für Auslandsspionage wurde von ihm verfügt, und der ebenfalls seit 1943 von ihm zum Gruppenleiter beförderte Otto Skorzeny sollte mit seinen Jagdverbänden in Kaltenbrunners Nähe gezogen werden.
Kaltenbrunner hatte Skorzeny schon im April den Auftrag gegeben, das SS-Sicherheits-Gerenadierbataillon II aufzustellen, um gegen Deserteure vorzugehen und sich für den Kampf gegen die Bolschewisten bereitzuhalten. Als dann auch Adolf Eichmann Ende April aus Prag in Altaussee auftauchte und sich im Parkhotel mit seinem Stab einquartierte, konnte dies Kaltenbrunner nicht wirklich recht sein.
«Ja, was machst jetzt?»
In Skihemd und Keilhosen empfing er den Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden mit den Worten: «Ja, was machst jetzt?» Kaltenbrunner erteilte seinem Untergebenen einen letzten Befehl: Er sollte den Widerstand gegen die Russen organisieren und gegen «Verräter» in den eigenen Reihen vorgehen. Zu Eichmanns Enttäuschung hatte Kaltenbrunner Eichmann ausdrücklich angewiesen, nicht auf Briten und Amerikaner zu schiessen.
Kaltenbrunner war in Altaussee sehr aktiv. In der Zeit bis zum 5. Mai sind von ihm fortgesetzte Abstimmungsfahrten im Salzkammergut und nach Berchtesgaden überliefert. So hielt er sich ausgerechnet am 23. April in Berchtesgaden auf, als Hermann Göring dort die Macht übernehmen wollte. Göring hatte per Telegramm vom Obersalzberg nachgefragt, ob Hitler in der «Festung Berlin» auszuharren beabsichtige und ob nun der «Führererlass» aus dem Jahr 1941 in Kraft sei, wonach der Reichsmarschall bei eingeschränkter Handlungsfreiheit Hitlers die Nachfolge antreten solle.
Hitler bekam einen Wutanfall und entliess Göring aus allen Ämtern. Auch der Reichsführer SS war in Ungnade gefallen. Kaltenbrunner aber sass im Salzkammergut, reiste zwischen Altaussee, Salzburg, Berchtesgaden und Attersee hin und her und war vor allem damit befasst, Gold- und Devisenvorräte des «Dritten Reiches» für die unsichere Zeit danach in sichere Verstecke zu verbringen.
So sind in den letzten Kriegswochen mehrere Treffen mit Kajetan Mühlmann, Hitlers oberstem Kunsträuber, am Attersee belegt. In Altaussee war Kaltenbrunner die treibende Kraft bei der Rettung der Kunstschätze, als es darum ging, den fanatischen Gauleiter August Eigruber von einer beispiellosen Zerstörungsaktion der im Salzbergwerk eingelagerten Kunstwerke abzuhalten.
Falsche Papiere, amerikanische Bonbons
Ende April hatte Kaltenbrunner auch die Fäden gezogen, als sich der Verwaltungs- und Finanzchef des Reichssicherheitshauptamtes, Josef Spacil, ins steirische Salzkammergut begab, um in einer ominösen Aktion eine ganz Anzahl von beschrifteten und versiegelten Kisten im Toplitzsee verschwinden zu lassen.
Als am 6. Mai absehbar war, dass die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unmittelbar bevorstand, entschied sich Kaltenbrunner zur Flucht ins Tote Gebirge. Auch diese letzte Aktion war sorgfältig geplant. Er wurde mit falschen Papieren des SS-Arztes Unterwöger versehen. Waffen, Essensvorräte, Champagner, Zigaretten, amerikanische Bonbons, Falschgeld und Devisen waren zuvor schon ins Versteck auf die Wildenseehütte gebracht worden.
Einheimische Jäger geleiteten Kaltenbrunner, seinen Adjutanten Arthur Scheidler und zwei SS-Männer auf die 1500 Meter über Meer gelegene Wildenseealm. Sechs Tage später wurde er dort von einem amerikanischen Kommando aufgespürt und gefangen genommen.
Es endete mit einer filmreifen Szene, als die Gruppe ins Dorf abgestiegen war. Die Amerikaner suchten Gewissheit, dass ihnen tatsächlich Kaltenbrunner ins Netz gegangen war. Als sich Gisela von Westarp und Iris Scheidler aus der Gruppe der im Dorf Versammelten lösten und ihren jeweiligen Männern um den Hals fielen, konnten sie sicher sein, dass sie tatsächlich den Chef des Reichssicherheitshauptamtes festgesetzt hatten.
Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.