Eine Ausstellung im Musée d’Orsay zeigt Gustave Caillebotte als Ahnherrn des visionären Sehens. In seinem Werk nahmen die Phänomene und Menschen der Grossstadt einen wichtigen Raum ein.
Die Impressionisten hatten auf ihn abgefärbt. Plötzlich war alles leuchtend bunt in seinen Bildern. Und vor allem Blautöne dominierten, als ob Gustave Caillebotte die ganze Welt durch einen Filter zu sehen begonnen hätte. Darüber liess sich Louis Leroy in der satirischen Zeitschrift «Le Charivari» aus. «Bei ihm ist alles blau. Es ist schrecklich, sich vorzustellen, was er an Kobalt, Ultramarin und an dem von Weisswäscherinnen geschätzten Indigo verschwendet. Niemals zuvor wurde eine Leinwand derart freigiebig mit Azur bedeckt». Der Kritiker hatte 1879 die neueste und damit seit 1874 vierte Impressionismus-Ausstellung besucht und lag mit seiner Einschätzung nicht völlig daneben.
1848 in Paris als Sohn eines Textilfabrikanten geboren und dann im Atelier von Léon Bonnat sowie an der École des Beaux-Arts ausgebildet, hatte Caillebotte mit dunkeltonigen, dem Naturalismus verpflichteten Bildern debütiert. Etwa mit seinen berühmten «Parketthoblern» und anderen Interieurs. Doch mittlerweile hatten seine engen Kontakte zu Claude Monet, Auguste Renoir, Alfred Sisley und ihrem Kreis seine Palette verändert. Caillebotte griff zu leuchtenden Pigmenten. Für Furore sorgten aber auch seine durchaus eigenwilligen Themen und Motive. Zeitgenossen sprachen von «frappierender Modernität» und «erstaunlicher Lebensnähe» – und vom Künstler als von einem «wahren Malertemperament» und «Neuerer».
Allerdings fiel Caillebotte nach seinem frühen Tod, der ihn 1894 mit nur 45 Jahren ereilte, als Maler von rund 550 Gemälden mehr oder weniger dem Vergessen anheim. Bekannt blieb er als Impresario und Mäzen seiner weit weniger vermögenden Malerfreunde sowie als deren Sammler. 1897 wurde ein Teil seiner Kollektion – Bilder vor allem von Manet, Monet und Renoir, Pissarro, Degas und Cézanne – dauerhaft dem Musée du Luxembourg übergeben, Vorläufer der späteren Galerie nationale du Jeu de Paume und dann des Musée d’Orsay.
Erst hundert Jahre später, nach grundlegenden Vorstössen vor allem amerikanischer Museen seit den siebziger Jahren, wurde sein Werk verstärkt auch wieder in Paris gewürdigt. 1994 galt ihm eine Retrospektive im Grand Palais. Seitdem wurden ihm hier und da zumeist kleinere Präsentationen ausgerichtet. Nun kann man sich ein rechtes Bild von seinem Œuvre in der Ausstellung «Caillebotte. Peindre les hommes» im Pariser Musée d’Orsay machen.
Handwerker und Segelsportler
In der thematischen Schau mit dem Titel «Männer malen» werden seine Stillleben und Landschaften zwar leider nicht berücksichtigt. Doch ist sie reich an Schlüsselwerken, darunter sein grossformatiges, aus Chicago angereistes Gemälde «Rue de Paris, temps de pluie». Dazu zählen des Weiteren Bilder von der Pont de l’Europe, der Brücke über den Schienen und Weichen am Bahnhof Saint-Lazare, die Flaneure und Zaungäste in Szene setzen, aber auch solche von Handwerkern, Ruderern, Kanufahrern und Segelsportlern.
Darstellungen von Männern dominieren Caillebottes Bildwelt, wie nicht zuletzt eine Reihe von Porträts beweist, die er von Freunden und Bekannten malte. Oder eine Gruppe am Spieltisch, die sich mit Bezik-Karten die Zeit vertreibt. In diese Reihe gehören auch zwei ausgesprochen virile Nackte, die soeben einem Wannenbad entstiegen sind und sich mit Handtüchern trocken reiben.
Die frappierende Dominanz des Maskulinen in seinem Werk bedeutet aber keineswegs, dass Caillebotte Frauen nicht wahrnahm. So treten die Männer im Bad, ein sitzender und ein stehender Rückenakt, in einen Dialog mit einem noch heute recht gewagt wirkenden weiblichen Akt – wegen seiner Bildmasse und der Demonstration purer Blösse. Als die Polizei 1917 Akte von Amedeo Modigliani beanstandete, weil sie (getrimmte) Schamhaare zeigten, erinnerte sie sich offenbar nicht mehr an Caillebottes «Nu au divan» (um 1880) mit dem üppigen Haarwuchs.
Mit Zeichnungen, darunter Studien einzelner Bildelemente, die Kompositionen in Öl vorbereiten halfen, aber auch mit Pastellen und Gemälden wird jetzt dem Künstler nachgespürt. Er wuchs mit Brüdern auf, denen er sehr eng verbunden blieb, machte Erfahrungen als Soldat im Krieg 1870 und später bei Wehrübungen. Er blieb zeitlebens unverheiratet, wie nicht wenige seiner Freunde. Aus dem Junggesellendasein und den beiden männlichen Akten im Badezimmer wird zwar heutzutage mehr denn je auf intime Vorlieben des Malers geschlossen. Aber viel Luft für Interpretationen bieten auch harmlosere Werke.
Caillebotte beobachtete und enthüllte. Einblicke in sein Privatleben gab er jedoch kaum oder nur codiert. Darin hat eine gewisse Anne-Marie Hagen, die Charlotte Berthier genannt wurde, eine wohl nicht unbedeutende Rolle gespielt. Sie sass auch anderen Malern Modell. Und sie wurde von Caillebotte in seinem Testament bedacht, wenn auch nicht als Haupterbin. War es Leidenschaft, gar Liebe, und zugleich eine unstandesgemässe Liaison – oder aufrichtige, aber platonische Freundschaft und willkommenes Feigenblatt? Sind solche Fragen überhaupt von Bedeutung für sein Werk?
Mehrdeutigkeit und Komplexität
Eine Stärke des Malers ist die Komplexität seiner nahezu kakofonen Bildwelt. Szenen der Privatheit stehen solchen des öffentlichen Lebens gegenüber. Solche der Ruhe und Gemächlichkeit, aber auch der Einsamkeit, wenn nicht der Langeweile treffen auf Schilderungen, in denen sich die Dynamik urbaner Situationen äussert. Bisweilen ist aber nicht klar festzumachen, was den Künstler vorrangig antrieb. Viele Bilder brillieren gerade auch durch ihre Mehrdeutigkeit. Auf den ersten Blick wirken sie zugänglich, weil narrativ. Sie stellen aber eine ständige Versuchung dar, ihren Sinn zu ergründen.
Mehrdeutigkeit betrifft auch Caillebottes Selbstverständnis als Mann in einer patriarchalischen, von Etikette, Schicklichkeit und Bekleidungsnormen geprägten Gesellschaft. So sind seine Kartenspieler zwar im kompositorischen Sinn zentrales Bildmotiv, doch der Schlüssel zum Verständnis liegt möglicherweise bei jenem Mann, der unbeteiligt, wenn nicht gelangweilt und aussenseiterisch den Männerklub vom Sofa im Hintergrund aus beobachtet. Zielte Caillebotte subversiv auf Nuancierung und Infragestellung zeitgenössischer Stereotype oder gar auf die Aufweichung von Rollenmustern?
Das malerische Œuvre Caillebottes solchermassen gegen den Strich zu bürsten, ist Verdienst dieser Ausstellung. Der Verengung auf einen Männermaler muss man aber nicht notwendigerweise folgen: Klare Antworten geben weder Archivalien noch seine Bilder. Vielmehr regen diese die Betrachter an, ihnen Rätsel zu entlocken, und bieten dabei Spielraum für Phantasien, wenn nicht Spekulationen. Am Ende des Impressionismus-Jubiläumsjahrs kann man die Schau als Gelegenheit betrachten, lange ausgeblendete Beiträge zu der vor 150 Jahren entstandenen Kunstrichtung wiederzusehen oder kennenzulernen.
Dabei zeigt sich vor allem auch, dass Gustave Caillebottes Bilder nicht nur an ihrer Farbigkeit und ihrem Pinselduktus oder an ihren Themen und Motiven gemessen werden können. Mit ihren Perspektiven und Diagonalen, mit ihren Zoomeffekten und Weitwinkelansichten nehmen sie die Fotografie und die filmischen Mittel des frühen 20. Jahrhunderts vorweg.
«Caillebotte. Peindre les hommes», Musée d’Orsay, Paris, bis 19. Januar 2025. Kat. 45 €. Anschliessend als «Gustave Caillebotte: Painting Men» in Los Angeles und Chicago.