Gegen Demis Volpi, den Nachfolger John Neumeiers beim Hamburg Ballett, regt sich Widerstand. Ursache des Problems ist ein nicht bewältigter Generationswechsel im Tanz.
Beim Hamburg Ballett ist Feuer im Dach. Fünf Erste Solistinnen und Solisten haben gekündigt, und über die Hälfte des Ensembles hat einen Brief an Carsten Brosda, den Kultursenator der Stadt, unterzeichnet; darin beklagen sich die Tänzer über den Führungsstil und die künstlerischen Fähigkeiten des neuen Ballettdirektors Demis Volpi. Besonders drastisch äusserte sich der Solist Alexandr Trusch in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk (NDR). Er warf dem argentinisch-deutschen Choreografen «Mangel an künstlerischer Qualität» vor; er fürchte, dass das hohe Niveau der zuvor einundfünfzig Jahre lang von John Neumeier geprägten Kompanie nun «in den Mülleimer geworfen» würde.
Demis Volpi lässt in einem Statement verlautbaren, dass er die Kritik sehr ernst nehme, zeigt sich indes betroffen, dass die geäusserten Sorgen nicht in erster Linie mit ihm besprochen wurden. Laut Friederike Adolph, der Pressesprecherin beim Hamburg Ballett, lag der Institution der Brief der Tänzer zum Zeitpunkt unseres Gesprächs nicht vor.
Demis Volpi dürfte derzeit den schwierigsten Job in der Ballettwelt haben. Im letzten Sommer hat er die Kompanie übernommen, mit der Neumeier fast sein gesamtes Œuvre von 170 Choreografien geschaffen hat. Das ist ein grandioses Erbe für die Ballettwelt – aber eines, das schwer wiegt für jeden Nachfolger. Volpis Aufgabe ist darum so heikel wie komplex. Er muss das Schaffen Neumeiers pflegen und dessen weltberühmte Handlungsballette weiterhin auf Höchstniveau präsentieren. Zugleich soll er das Repertoire der Kompanie erweitern und ihr auch seine eigene Handschrift verleihen.
Bewahren und Erneuern
Darum hat man sich bei der Nachfolge Neumeiers für einen Choreografen entschieden – und nicht für eine kuratierende Leitung. Das Erbe hätten auch ehemalige Tänzer pflegen können; für die Aufgabe ist nun der stellvertretende Direktor und Neumeier-Adlatus Lloyd Riggins zuständig. Aber weitere zehn, zwanzig Jahre ausschliesslich Neumeier – das wollte man in Hamburg offenbar nicht. Für einen erfahrenen, selbstbewussten Star ist in diesem Setting freilich wenig Platz. Also setzte man auf einen jungen Choreografen mit Leitungserfahrung. Volpi hatte zuvor vier Jahre lang das Ballett am Rhein in Düsseldorf und Duisburg geleitet.
Sein Programm kommt an, beim Publikum wie auch bei der Kritik. Das Hamburg Ballett verzeichnet eine Auslastung von 94 Prozent. Volpis erster Abend «The Times Are Racing» mit vier unterschiedlichen choreografischen Handschriften aus Pina Bauschs Anfängen bis zu seiner Düsseldorfer Zeit wurde hochgelobt. Die Vielfalt stellte sehr wohl hohe Ansprüche, wenn auch anders als ein Neumeier-Ballett. Ähnliches lässt sich über den zweiten Abend mit der Kreation eines Stücks von Aszure Barton und einer Choreografie von William Forsythe sagen.
Die Medien hielten sich in dem vermeintlichen Ballett-Skandal denn auch zunächst zurück – zumal man aus Düsseldorf, wo Volpi 2020 das ebenfalls nicht leichte Erbe von Martin Schläpfer angetreten hatte, keine Klagen hörte. Doch das hat sich unterdessen geändert. Siebzehn Mitglieder aus Volpis ehemaliger Kompanie unterstützen ihre Hamburger Kollegen, wiederum mit einem Brief an den Kultursenator Brosda – nur eines von ihnen geht mit Namen an die Öffentlichkeit. In dem Schreiben ist von einer «Atmosphäre der Angst und Unsicherheit» die Rede. Und flugs hat der NDR den Kopf des Künstlers gefordert. Das ist voreilig. Beim Ballett am Rhein seien zwar Beschwerden über die Arbeitsweise des 39-Jährigen aus dem technischen Bereich eingegangen, sagt die Pressesprecherin Monika Doll. Es habe indessen «nie Alarmsignale für strukturellen Missbrauch gegeben».
Zu fragen ist, warum dem Künstler in Hamburg nicht von Anfang an ein erfahrenes Coaching in Change-Management an die Seite gestellt wurde. Das soll laut der Pressestelle des Balletts nun passieren. Denn was gerade in Hamburg geschieht, war und ist in anderen Städten mit weltberühmten Tanzkompanien wie Lausanne oder Wuppertal so oder ähnlich schon länger zu beobachten.
Ein Tanz-Museum will keiner
Einmal mehr ist die Kunst zu erben gefragt – im Tanz ist dies immer auch eine Kunst der umsichtigen Erneuerung, soll eine Kompanie überleben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Tanz in Europa und den USA in viele unterschiedliche Richtungen entwickelt, nicht nur in der freien Szene. In Westeuropa haben sich in den 1970er Jahren Künstlerinnen und Künstler mit institutionellen Ensembles auf neue Wege gemacht, haben die Tanzkunst massgeblich verändert und bis heute geprägt.
Am Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie gründete 1960 Maurice Béjart sein Ballet du XXe siècle, erneuerte das neoklassizistische Ballett und füllte damit Sportpaläste. 1987 zog er mit der Truppe nach Lausanne, wo er bis zu seinem Tod 2007 mit dem Béjart Ballet Lausanne arbeitete. An den Wuppertaler Bühnen übernahm 1973 Pina Bausch das Ballett, taufte es in Tanztheater Wuppertal um und erfand mit einer eingeschworenen Gruppe von Persönlichkeiten eine neue Theaterform. Im selben Jahr kam John Neumeier nach Hamburg und entwickelte eine neue Dramaturgie des Erzählens. 1975 wurde Jiří Kylián Leiter des Nederlands Dans Theater und führt die Kompanie in den fünfundzwanzig Jahren seiner Direktionszeit mit seinen magischen Balletten zwischen Neoklassizismus, Modern Dance und dunklem Humor zu Weltruhm. 1984 übernahm William Forsythe das Ballett Frankfurt und dekonstruierte das klassische Ballett. Als ihm 2004 die Stadt das Ensemble wegsparte, gründete er die unabhängige Forsythe Company, mit der er bis 2015 weiter forschte.
Diese Jahrhundertchoreografen haben ein umfangreiches Werk geschaffen, das gut dokumentiert und (noch) von beteiligten Tänzern gepflegt wird. Es kommenden Generationen zugänglich zu machen, ist so bedeutungsvoll wie herausfordernd. Anders als ein Gemälde kann man ein Tanzstück nicht ins Museum hängen – es muss aufgeführt werden, damit es erlebbar bleibt. Eine Kompanie indes, die Museum tanzt, will heute in der westlichen Welt niemand mehr. Tänzerinnen und Tänzer sind interessiert am Bestehenden, aber sie wollen auch Neues schaffen können. Der Spagat zwischen Erneuerung und Pflege des Erbes wird zur Zerreissprobe, nicht nur in Hamburg.
Nach Béjarts Tod übernahm der langjährige Tänzer Gil Roman. Er pflegte das Repertoire auf hohem Niveau und schuf für die Kompanie einige leidliche Stücke. Wegen seines Umgangs mit dem Ensemble war er jedoch umstritten. 2024 wurde er entlassen und durch den ehemaligen Tänzer Julien Favreau ersetzt.
Wie eine feindliche Übernahme
Das Tanztheater Wuppertal tourt sechzehn Jahre nach Pina Bauschs Tod nach wie vor eifrig durch die Welt, und soeben haben Wuppertaler Urgesteine, viele «siebzig plus», am Berliner Tanztheater einen grossen Erfolg mit Meryl Tankards klugem Erinnerungsstück «Kontakthof – Echoes of ’78» gefeiert. Doch der Jubel konnte die Misstöne nicht übertönen, die aus Wuppertal herüberklingen. Dort hat der künstlerische Leiter, der französische Starchoreograf Boris Charmatz, sein Amt nach nur drei Spielzeiten hingeworfen.
Er ist der Letzte in einer ganzen Reihe. Erst übernahmen Leute aus den eigenen Reihen die Leitung, danach Dramaturginnen von aussen, dann Charmatz. Selbstbewusst hatte dieser den Namen seiner Struktur «Terrain» hinter den Namen Tanztheater Wuppertal Pina Bausch gestellt und neben dem Schaffen der Choreografin auch sein eigenes gepflegt. Das muss einigen wie eine feindliche Übernahme vorgekommen sein. Doch der Franzose schuf spannende Werke, wie 2023 das abendfüllende Stück «Liberté Cathédrale». Nun ist Ende der Spielzeit Schluss – über die Gründe wurde Stillschweigen vereinbart. Das Tanztheater steht erneut ohne künstlerischen Kopf da.
Zu hoffen ist, dass ein solches Kommen und Gehen dem Hamburg Ballett erspart bleibt. Sicher ist das nicht. Der Protest der Tänzer trifft den Ballettdirektor zu denkbar ungünstiger Zeit. Demis Volpi probt gerade seine erste Kreation für Hamburg, «Demian» nach Hermann Hesse – mit einem Ensemble, das nur teilweise hinter ihm steht.