Seit zwei Monaten hat die türkische Kurdenpolitik eine neue Dynamik erfasst. Gelingt es dieses Mal, den jahrzehntealten Konflikt beizulegen?
Seit mehr als vier Jahrzehnten liefern sich der türkische Staat und die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen blutigen Konflikt. Die letzte Friedensinitiative scheiterte im Jahr 2015. Seither setzt die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Umgang mit kurdischen Forderungen vornehmlich auf Repression.
Die türkische Armee hat auf dem eigenen Staatsgebiet die Strukturen und die Kampffähigkeit der PKK, die auch in der EU und den USA als Terrororganisation gilt, stark geschwächt. Die meisten aktiven Kämpfer befinden sich heute ausserhalb des Landes, vor allem im kurdischen Nordirak, wohin auch das Hauptquartier der PKK verlegt wurde. Dennoch ist die Organisation weiterhin in der Lage, Anschläge in der Türkei zu verüben, zuletzt im Oktober gegen ein staatliches Rüstungsunternehmen in Ankara.
Die Regierung geht aber auch gegen demokratisch legitimierte Vertreter der kurdischen Bewegung vor. Hunderte von Politikern sind in Haft, unter ihnen der frühere Co-Vorsitzende der grössten prokurdischen Partei, HDP, Selahattin Demirtas. Nach den Lokalwahlen 2019 wurden innert zweier Jahre alle HDP-Bürgermeister grosser Städte von ihren Ämtern entfernt. Gegen die Partei wurde ein Verbotsverfahren eröffnet, was zur Neugründung unter dem Namen DEM führte.
Widersprüchliche Signale
Seit dem 1. Oktober ist nun erneut Bewegung in die türkische Kurdenpolitik geraten. Devlet Bahceli, der ultranationalistische Verbündete von Präsident Recep Tayyip Erdogan, hat bei der Parlamentseröffnung den kurdischen Abgeordneten symbolkräftig die Hand gereicht und damit einige Aufmerksamkeit erregt.
Bisher hatte der Rechtsaussenpolitiker eine minderheitenfeindliche Politik betrieben und kurdischen Interessenvertretern stets jegliche Legitimität abgesprochen. Nun fordert Bahceli sogar, dass der inhaftierte Gründer der PKK, Abdullah Öcalan, im Parlament sprechen und dort der Gewalt abschwören solle.
Die neue Initiative wirft viele Fragen auf. Dazu tragen auch die widersprüchlichen Signale bei, welche die Regierung teilweise fast simultan aussendet.
Am 26. November etwa rief Bahceli die Abgeordneten der DEM-Partei auf, den inhaftierten PKK-Gründer Öcalan im Gefängnis zu besuchen. Nur einige Stunden später wurde der kurdische Dichter Ilhan Sami Comak nach mehr als dreissig Jahren aus der Haft entlassen.
Am Morgen desselben Tages wurden in einer landesweiten Razzia aber auch 230 Personen wegen angeblicher Verbindungen zur PKK festgenommen. Dazu gehören Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und viele Mitglieder der prokurdischen DEM-Partei. In den letzten Wochen sind sechs kurdische Bürgermeister ihrer Ämter enthoben worden. Zudem führte die türkische Armee die schwersten Angriffe seit langem auf kurdische Stellungen in Syrien aus.
Wie ist all dies zu bewerten?
Geopolitische Gemengelage begünstigt Annäherung
Die jüngste Annäherung an die Kurden ist von innen- und aussenpolitischen Umständen beeinflusst. Wegen der Wechselwirkung mit Entwicklungen jenseits der Grenze hat Ankara die Kurdenfrage nie auf das eigene Territorium beschränkt.
Von besonderer Bedeutung ist die Situation im Nordosten Syriens. Der Türkei war die kurdisch geprägte, autonome Region im Bürgerkriegsland (Rojava) immer ein Dorn im Auge. Die dort dominierenden Volksverteidigungseinheiten (YPG) werden in Ankara als syrischer Arm der PKK gesehen.
Ein Abzug der amerikanischen Truppen aus Syrien, der mit der Wahl Donald Trumps wahrscheinlicher geworden ist, könnte zu einer Annäherung der Kurden an das Regime in Damaskus führen. Ankara möchte das verhindern, zumindest so lange, bis man die eigenen Beziehungen zum syrischen Machthaber Asad repariert hat.
Dies und die Sorge über eine weitere Eskalation im Nahen Osten wegen eines möglichen Krieges zwischen Israel und Iran erhöhten in Ankara die Bereitschaft für eine Annäherung an die Kurden. In Zeiten geostrategischer Unsicherheit tendiert die Türkei dazu, in der Heimat für Entspannung zu sorgen. Als Bahceli den kurdischen Politikern im Parlament die Hand reichte, sagte er, es gehe ums Vaterland. Da müssten alle zusammenstehen.
Die dramatischen Entwicklungen in Syrien in den letzten Tagen haben eine neue Ausgangslage geschaffen, mit schwer absehbaren Folgen. Am Vorstoss gegenüber den Kurden in der Türkei dürfte die Regierung aber festhalten.
Machtpolitische Erwägungen Erdogans
Denn der eigentliche Antrieb war immer innenpolitischer Natur. Erdogan muss seine Machtbasis neu aufstellen, weil die Allianz seiner religiös-konservativen AKP mit Bahcelis ultranationalistischer MHP auf absehbare Zeit keine Mehrheit mehr sichert.
Eine solche braucht der Präsident für die angestrebte Verfassungsreform, mit der er sich eine weitere Amtszeit ermöglichen will. Mit einem Wählerpotenzial von 10 bis 15 Prozent sind die kurdischen Kräfte für das Regierungslager aus rein machtpolitischem Kalkül ein interessanter Partner.
Kurdische Verbitterung über Opposition
Auch auf kurdischer Seite gibt es Überlegungen zu einer Neuausrichtung. Die prokurdischen Parteien befanden sich in den vergangenen Jahren in einer informellen Allianz mit der kemalistischen Opposition.
Auf lokaler Ebene war diese Strategie erfolgreich. Die Regierungsgegner haben bei den Lokalwahlen 2019 und 2024 auch dank den Stimmen der Millionen kurdischer Binnenmigranten fast alle grossen Städte gewonnen. Bei vielen Kurden herrscht jedoch der Eindruck vor, dass sie davon kaum profitiert haben. Hinzu kommt, dass auf nationaler Ebene der Machtwechsel gescheitert ist.
Ist es unter diesen Umständen nicht aussichtsreicher, mit der Regierung ein Auskommen zu suchen? Schliesslich gab es in den Anfangsjahren unter Erdogan durchaus Zugeständnisse an Minderheiten, etwa im kulturellen Bereich. Dies ist auch jetzt denkbar, besonders, weil Erdogans ultranationalistischer Verbündeter Bahceli als Urheber des Vorstosses dargestellt wird und diesen somit nicht torpedieren kann.
Ausserdem lässt Erdogan keinen Zweifel daran, dass er die Schraube auch wieder anziehen kann. Die Absetzungen von Bürgermeistern, die Verhaftungen von Aktivisten und die verstärkten Angriffe auf kurdische Ziele in Nordsyrien dienen genau diesem Zweck. Bei der Annäherung an die Kurden wirbt die Regierung nicht nur mit Zuckerbrot, sondern droht auch mit der Peitsche.
Warten auf konkrete Taten
Trotz grossem Misstrauen wird die Initiative auf kurdischer Seite ernst genommen. Nicht, weil man von einem plötzlichen Gesinnungswandel der Regierung ausgeht, sondern weil in der beschriebenen Gemengelage ein gewisses Potenzial für konkrete Verbesserungen der eigenen Situation erkannt wird.
Nach Bahcelis Aufruf zu einem Treffen zwischen kurdischen Abgeordneten und Öcalan stellte die DEM-Fraktion umgehend ein Gesuch für einen Besuch im Gefängnis. Die Antwort steht noch aus.
Ilham Ahmed, die für die Aussenpolitik des kurdischen Autonomiegebiets in Nordostsyrien zuständig ist, sprach kürzlich in einem Interview von vorsichtiger Zuversicht angesichts der Entwicklungen in der Türkei. Entscheidend sei, was nun an konkreten Taten folge.
Keine tiefgreifenden Reformen
Dies ist auch das grösste Fragezeichen hinter dem Regierungsvorstoss. Erdogan ist ein transaktional denkender Politiker. Gewisse Zugeständnisse an die kurdische Bewegung sind im Gegenzug für eine direkte oder indirekte politische Unterstützung durchaus möglich.
Das ist aber nicht gleichbedeutend mit tiefgreifenden Reformen, wie sie immer zum Forderungskatalog der kurdischen Parteien gehörten und die eine Voraussetzung für eine nachhaltige Lösung des Konflikts sind.
Es ist bezeichnend, dass im Zentrum des Regierungsvorstosses der verurteilte Terrorist und autoritäre PKK-Führer Abdullah Öcalan steht und nicht das demokratische Gesicht des kurdischen Kampfes, Selahattin Demirtas. Der frühere Co-Vorsitzende der HDP sitzt seit acht Jahren in Haft, seine Freilassung wird unter anderem vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof verlangt. Erdogan geht es nicht um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Der letzte Friedensprozess brach 2015 zusammen, weil die Führung der HDP Erdogans Umbau des Landes zu einem Präsidialsystem, das dem Staatsoberhaupt fast uneingeschränkte Macht verleiht, nicht unterstützen wollte. Nach dem gescheiterten Staatsstreich von 2016 gelang es Erdogan dennoch, durch ein Referendum die Verfassung entsprechend zu ändern.
Am Ende geht es Erdogan um die Macht. Das wissen auch die Kurden.







