Der Zürcher Finanzdirektor muss widerwillig den Ausgleich der kalten Progression erweitern. Dem Kanton würden 240 Millionen Franken entgehen.
Der Begriff «Ausgleich der kalten Progression» ist nicht selbsterklärend. Für Steuerpflichtige ist das Prinzip aber wichtig. Wird nämlich ihr Einkommen an die Teuerung angepasst, geraten sie unter Umständen in eine höhere Stufe der Steuerprogression. Das hat zur Folge, dass sie dem Staat mehr abliefern müssten, obwohl ihre Kaufkraft nicht gestiegen ist.
Diese kalte Progression wird im Kanton Zürich seit 1987 obligatorisch ausgeglichen, indem alle zwei Jahre automatisch die Tarifstufen der Einkommens- und der Vermögenssteuer sowie die Steuerabzüge an den Landesindex der Konsumentenpreise angepasst werden.
Die Denkfabrik Avenir Suisse und Kantonsrat Mario Senn (FDP, Adliswil) haben nun die Wortschöpfung «warme Progression» in die politische Diskussion eingeführt. Gemeint ist, dass Angestellte auch durch den Anstieg der Nominallöhne in eine höhere Progressionsstufe kommen, wenn also ihre Kaufkraft durch das Produktions- und Reallohnwachstum steigt.
Gemeinsam mit SVP und GLP forderte Senn in einer verbindlichen Motion, durch eine Änderung des Steuergesetzes sei diese warme oder reale Progression auszugleichen. Die faktische Steuererhöhung belaste insbesondere tiefere Einkommen und den Mittelstand. Gerade sehr gut Verdienende würden davon kaum profitieren, sagte Senn am Montag an der Debatte über den Vorstoss.
Für die Kritiker eine «Kulissenschieberei»
Der Regierungsrat lehnte diesen Auftrag ab und rechnete vor, dass dem Kanton jährlich Steuern in der Höhe von rund 240 Millionen Franken entgehen würden. Etwa gleich hohe Mindereinnahmen ergäben sich für die Gemeinden. Methodisch wandte er ein, dass die Teuerung wie 2021 und 2022 auch einmal höher sein könne als die Entwicklung der Nominallöhne. Ausserdem sei der Ausgleich der kalten Progression in der übrigen Schweiz üblich.
Mario Senn konterte im Rat, der Staat nehme mit dem Ausgleich der warmen Progression nicht weniger ein, seine Einkünfte stiegen einfach weniger schnell. Im übrigen weise die Regierung selbst darauf hin, dass Zürich 1987 als erster Kanton den automatischen Ausgleich der kalten Progression eingeführt habe. Nun könne er erneut vorangehen, statt auf andere und den Bund zu schauen.
Die Linke und politische Mitte konnten der Idee wenig abgewinnen. SP-Finanzpolitiker Stefan Feldmann (Uster) sprach unter Verweis auf die sprichwörtlichen Attrappendörfer des russischen Fürsten Potemkin von einer kunstvollen Vorspiegelung falscher Tatsachen und Kulissenschieberei. Kern des Steuergesetzes sei die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Demnach sei es gerecht und logisch, dass jene mehr bezahlen, die unabhängig von der Teuerung einen höheren Lohn erhalten.
Wenn dem Kanton Zürich 240 Millionen Franken fehlten, die eingespart werden müssten, helfe das dem Mittelstand auf keinen Fall, meinte die grüne Co-Präsidentin Selma l’Orange Seigo (Zürich). Derweil sagte Thomas Anwander (Mitte, Winterthur), er sei skeptisch, ob es sich hier um ein drängendes Problem handle. Donato Scognamiglio (EVP, Freienstein-Teufen) spöttelte, wann wohl die lauwarme Progression komme. Was Senn wolle, verstehe die Bevölkerung nicht und sei auf keinen Fall mehrheitsfähig.
Gabriel Mäder (GLP, Adliswil) hielt entgegen, die Anpassung komme nicht Einzelnen zugute, die steigende Steuerbelastung durch höhere Reallöhne betreffe breite Gesellschaftsschichten. SVP-Fraktionschef Tobias Weidmann (Hettlingen) ortet einen Widerspruch in der SP, die sich als Hüterin der Kaufkraft zelebriere. Dabei seien es die Steuern, die das verfügbare Einkommen reduzierten.
Weniger Einnahmen, mehr Leistungen?
Finanzdirektor Ernst Stocker sprach ironisch von einer «kreativen» Motion. Er wunderte sich, wie plötzlich von bürgerlicher Seite die Entlastung von Steuerpflichtigen mit mittleren und niedrigen Einkommen gefordert werde. Bis anhin habe er von dort immer vernommen, man müsse die guten Steuerzahler entlasten. Im übrigen hielt er aufgrund von Statistiken fest, der Mittelstand sei im Kanton Zürich gut aufgestellt und brauche keine Entlastung.
Es sei aber auch für den Haushalt verantwortlich, fuhr Stocker fort, und sprach dem ganzen Parlament wegen dessen Ausgabefreudigkeit ins Gewissen. Die Debatte um das Budget 2025 rücke näher, und die Leistungen des Staates würden laufend ausgebaut. Das müsse er einmal deutsch und deutlich sagen, so Stocker: «Dieser Rat geht mit Steuereinnahmen leichtfertiger um als mein Enkel mit seinem Sackgeld.»
Es nützte nichts. Die komfortable Mehrheit von SVP, FDP und GLP überwies die Motion mit 100 gegen 76 Stimmen. Der Regierungsrat hat nun den Auftrag, innert zweier Jahre eine Vorlage für den Ausgleich der warmen Progression auszuarbeiten.
Eine zweite Strafaufgabe blieb Ernst Stocker erspart. Zusammen mit der GLP hatte Mario Senn ein Postulat eingereicht um zu prüfen, wie Angestellte, die ein E-Auto ihres Arbeitgebers privat nutzen, steuerlich entlastet werden können. Die Ladeinfrastruktur und der Strombezug gelte als Lohnbestandteil, was in der Steuererklärung mit bis 2000 Franken zu Buche schlage, wurde gesagt.
Die Gegner sahen diesmal samt der SVP jedoch keinen Handlungsbedarf. Das Problem löse sich in absehbarer Zeit von alleine, weil die E-Fahrzeuge günstiger würden und der politische Druck auf Unternehmen steige, ihre Fahrzeugflotte generell zu elektrifizieren, hiess es.
Der Regierungsrat hatte in seiner Stellungnahme ausserdem erklärt, die Übernahme der Kosten von Ladeinstallationen gehöre laut Bundesrecht zum steuerbaren Einkommen, weshalb der Kanton Zürich keinen Spielraum habe. Der Rat lehnte das Postulat mit 123 gegen 52 Stimmen ab.