Die dreitägige Wahl in Russland wurde als Jubelfest für Präsident Putin inszeniert, mit vorhersehbarem Resultat. In Zeiten von Krieg und Repression gibt es kaum Spielräume für Andersdenkende.
Um 12 Uhr mittags erwachte rund um das Wahllokal Nummer 2567 am westlichen Rand der Moskauer Innenstadt plötzlich das Leben. Vor dem Eingang des rot gestrichenen Schulgebäudes bildete sich eine schnell anwachsende Schlange von Wählerinnen und Wählern verschiedenen Alters. Gegen hundert waren es zeitweise. Sie waren dem Aufruf gefolgt, den der vor einem Monat im Straflager umgekommene Oppositionspolitiker Alexei Nawalny Anfang Februar verbreitet hatte.
In Ermangelung legaler Möglichkeiten des Protests sollten die mit der politischen Lage in Russland Unzufriedenen die Präsidentschaftswahl nutzen, um ein Zeichen zu setzen, und gemeinsam am Sonntagmittag, am letzten der drei Wahltage, die Stimme abgeben. Die Moskauer Staatsanwaltschaft warnte vor strafrechtlichen Konsequenzen. Die von manchen belächelte Idee funktionierte aber und führte, wie schon Nawalnys Begräbnis vor zwei Wochen, Gleichgesinnte zusammen – zumindest mancherorts: Schon im benachbarten Wahllokal jenseits der grossen Strasse etwa gab es keine sichtbaren Warteschlangen.
Drei befreundete Studenten, die ihre Namen nicht nennen wollen, machen sich keine Illusionen über die Wirkung ihrer Stimme. Aber es sei nur schon gut zu spüren, dass man mit seiner Haltung nicht allein sei und dass das von den Staatsmedien verbreitete Bild einer geschlossenen Gesellschaft nicht stimme. Jede Handlung gelte es heutzutage genau abzuwägen. Aber wählen zu gehen, sei ja noch kein Verbrechen. Die drei befürchten schlechte Nachrichten nach der Wahl: die bereits angekündigte Steuererhöhung, eine mögliche Verlängerung der militärischen Dienstzeit oder gar eine neue Welle der Mobilmachung.
Putin über alles
Gegen die überwältigende Mehrheit ihrer Mitbürger und die staatliche Choreografie hatten sie alle nichts auszurichten. Nach der Auszählung von gut 80 Prozent der Wahlzettel entfielen laut der Zentralen Wahlkommission um kurz vor 23 Uhr mitteleuropäische Zeit 87,15 Prozent der Stimmen auf den Amtsinhaber Wladimir Putin – ein geradezu atemberaubendes Resultat. Das informell angestrebte Ergebnis lag bei 80 Prozent. Nachwahlbefragungen von zwei kremltreuen Umfrageinstituten kamen auf 87 und 87,8 Prozent. Die drei übrigen Bewerber lagen jeweils unter oder knapp über 4 Prozent. 2018 hatte Putin mit 76,7 Prozent bereits haushoch gesiegt.
Drei Tage lang hatten der russische Staat, die Staatsmedien und deren Claqueure die Präsidentschaftswahl in Russland zu einem schicksalbestimmenden Ereignis stilisiert. Dabei handelte es sich viel eher um eine «politische Spezialoperation» in Zeiten umfassender politischer Unterdrückung – und damit um das Gegenteil einer freien Willensäusserung.
Es ging darum, dem eigenen Land und der Welt in Zeiten des Krieges gegen die Ukraine, des Konflikts mit dem Westen und weltpolitischer Turbulenzen vorzuführen, dass das Volk fest hinter Putin steht und dessen Politik unterstützt. Der Wahlbeteiligung wurde deshalb besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie sollte möglichst hoch ausfallen und alle Zweifel aus dem Weg räumen, dass es Putin an Rückhalt und Legitimität mangeln könnte. Um 18 Uhr Moskauer Zeit lag sie bei 74,2 Prozent.
Wahlbeteiligung ist zentrale Grösse
Beamte, Lehrer und andere Angestellte im öffentlichen Dienst wurden noch mehr als in früheren Jahren dazu gedrängt, an der Wahl teilzunehmen und darüber Rechenschaft abzulegen. Am liebsten auf dem elektronischen Weg via das höchst umstrittene E-Voting-System. Aber auch an den herkömmlichen Wahlurnen wurde es den weniger gewordenen unabhängigen Beobachtern noch schwerer gemacht, Verfehlungen und Auffälligkeiten festzustellen und zu dokumentieren.
Besondere Aufmerksamkeit galt den «neuen Regionen», den besetzten Gebieten im Osten und Südosten der Ukraine. Die Wahlbeteiligung soll dort schon nach dem ersten Tag sehr hoch gewesen sein, aber es gab Hinweise auf Unregelmässigkeiten und Druckversuche. Die Abhaltung der Wahl in diesen völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Territorien stellt deren Legitimität überhaupt infrage.
Der Kreml tat zusammen mit den von ihm abhängigen Verwaltungschefs in den Regionen alles dafür, die Wahl zu einer Art Festveranstaltung umzudeuten. Wie zu Zeiten der Sowjetunion wurden die Wähler mit Lustbarkeiten angelockt. Dass die Wahltage auf das Ende der Masleniza, des «Butterfestes», fielen, mit dem die Fastenzeit beginnt, nutzten die Behörden weidlich aus.
Die Wahl sollte zur Feierstunde für Russland und seinen Präsidenten werden und zu einer Demonstration dessen, wie geeint, demokratisch und fortschrittlich das vom Westen verfemte Land doch sei. Getrübt wurde das Bild durch zahlreiche Zwischenfälle. Wahlkabinen wurden angezündet, in Wahlurnen wurde Farbe geschüttet, und die Grenzregion zur Ukraine stand unter Beschuss. Wegen «Behinderung des Wahlvorgangs» gab es zahlreiche Festnahmen.
Keine Oppositionskandidaten zugelassen
Es bestanden nie grosse Zweifel daran, dass Putin auch ohne Manipulationen nach wie vor von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Der Charakter einer «politischen Spezialoperation», die Ausschaltung jedes Risikos, verhinderte aber gerade das für eine Demokratie Entscheidende: eine freie Willensäusserung, eine Auswahl und einen offenen Ausgang. Neben Putin, der offiziell als Unabhängiger antrat, waren nur Exponenten von drei in der Staatsduma vertretenen pseudooppositionellen Parteien als Kandidaten zugelassen.
Diese drei stritten, wenn überhaupt, um den zweiten Platz. Dafür hatte der Kreml ursprünglich Leonid Sluzki, den Nachfolger des verstorbenen Ultranationalisten Wladimir Schirinowski, oder den hölzernen Kommunisten Nikolai Charitonow vorgesehen. Nur der jüngste der Bewerber, Wladislaw Dawankow von der Partei Neue Leute, ein Vertreter der städtischen Mittelklasse, sprach jene an, die eine rasche Beendigung des Krieges, eine «Normalisierung» des Lebens und ein Ende der politischen Repression herbeisehnen.
Unter Oppositionellen war deshalb in den Tagen vor der Wahl ein Streit darüber ausgebrochen, ob es sinnvoll sei, Dawankow als «kleinstes Übel» zu wählen und damit ein Zeichen gegen Putin zu setzen, oder ob nur ein Ungültigmachen des Wahlzettels, etwa mit politischen Losungen oder dem Namen Nawalnys, ernsthaften Protest signalisiere. Dritte verurteilten jede Beteiligung an der Pseudowahl als Legitimierung des Regimes.
Der gemässigte Liberale Boris Nadeschdin und die Lokalpolitikerin Jekaterina Dunzowa, die aus einer Aussenseiterposition versucht hatten, oppositionell gestimmte Wähler anzusprechen, durften nicht zur Wahl antreten. Die ersten Resultate zeigen nun, dass auch von den zugelassenen Kandidaten keiner auch nur annähernd einen Achtungserfolg verbuchen durfte, erst recht nicht Dawankow, der am ehesten noch eine Gegenposition zum Kriegsherrn Putin vertrat.
Der Umgang mit den Gegenkandidaten, die Repression und die Choreografie der Wahl durch die Präsidialverwaltung zeigten trotz der zur Schau gestellten Selbstgewissheit des Regimes, dass ein grosser Aufwand nötig war, um seinen Glanz noch greller strahlen zu lassen. Putins Gegner wurden mit dem nun absehbaren Resultat von fast 90 Prozent bewusst zerschmettert. Für alle Andersdenkenden im Land bedeutet dieser Triumph der Machthaber nichts Gutes.