Er war bei Sars in Hongkong, bei Zika in Brasilien, bei Ebola in Liberia. Daniel Lucey ist ein Getriebener. Er wolle verstehen, wie sich Seuchen stoppen liessen, sagt er im Gespräch. Wie er vor genau fünf Jahren vom neuen Coronavirus erfahren habe, werde er nie vergessen.
Herr Lucey, die «New York Times» nannte Sie einmal einen Seuchendetektiv. Bricht irgendwo eine Krankheit aus, gehören Sie oft zu den Ersten, die vor Ort sind. Was tun Sie da?
Mir geht es darum, die Krankheitsausbrüche zu verstehen und wie sie sich stoppen lassen. Ich spreche mit Ärzten, Pflegepersonal und sehe Patienten. So komme ich zu Informationen, die ich im Internet oder durch Telefonanrufe nicht erhalte. Dann komme ich zurück und erzähle meinen Studenten davon.
Sind Sie immer auch als Arzt tätig?
Nur wenn es möglich ist. Das war vor allem beim Ebola-Ausbruch 2014 der Fall, aber auch schon 2003 betreute ich Sars-Patienten in Kanada.
Zur Person
Daniel Lucey
Der Amerikaner ist Arzt für Infektionskrankheiten und öffentliche Gesundheit und hat vor Ort Erfahrungen mit Epidemien wie Sars, Mers, Ebola, Gelbfieber und Chikungunya gesammelt. Nachdem er an der Georgetown University in Washington (DC) Epidemiologie gelehrt hat, ist er seit 2022 Professor an der Geisel School of Medicine in Dartmouth.
Was treibt Sie an, immer wieder in diese Krisengebiete zu reisen?
Es ist fast wie ein Reflex. Bei Gänsen kommt es nach der Geburt zu einer Prägung. Ich habe das Gefühl, so etwas ist auch bei mir passiert. Als junger Arzt versorgte ich Anfang der achtziger Jahre in San Francisco die ersten Aids-Patienten. Das war, noch bevor wir das HI-Virus erkannten. Das hat mich geprägt. Seither beschäftige ich mich mit Epidemien und gehe dorthin, wo sie auftreten.
Auch kürzlich wieder?
Anfang September hörte ich, dass in Missouri der erste Patient in den USA mit Vogelgrippe des Typs H5N1 hospitalisiert worden war. Es ist bis heute nicht klar, wie er sich angesteckt hat. Also sprach ich mit meiner Frau und fuhr vier Tage später nach Missouri. Dort sah ich mich um, bis ich mir zu 99 Prozent sicher war, in welchem Krankenhaus der Patient lag.
Haben Sie ihn besucht oder mit seinen Ärzten gesprochen?
Nein, der Patient hatte sich bereits erholt und das Krankenhaus verlassen.
Im Verlauf dieses Jahres haben sich schon mehr als sechzig Menschen in den USA mit H5N1 angesteckt. Die meisten bei Kühen, wo ein anderer Subtyp des Virus zirkuliert als unter Vögeln. Wird genug getan, um die Verbreitung des Virus einzuschränken?
Ich denke, die Antwort ist Nein. Im März dieses Jahres wurde zum ersten Mal eine infizierte Kuh entdeckt. Jetzt sind es schon in mindestens 16 Staaten mindestens 865 Kuhherden. Die meisten davon, etwa 650 Herden, befinden sich in Kalifornien. Daraus kann ich nur schliessen, dass in diesem Jahr nicht genug getan wurde.
Hilft es, dass der Staat Kalifornien nun den Notstand ausgerufen hat?
Dadurch könnten die Ressourcen, die zur Verfügung stehen, steigen. Es wird hoffentlich auch dabei helfen, dass die verschiedenen Ämter, die für die Gesundheit von Menschen und von Tieren zuständig sind, besser zusammenarbeiten. Sie müssen das Testen von Kühen und anderen Tieren sowie von Menschen koordinieren.
Vor genau fünf Jahren zirkulierten die ersten Berichte über eine rätselhafte Lungenkrankheit, die in China ausgebrochen sei. Erinnern Sie sich, wie Sie erstmals vom neuen Coronavirus gehört haben?
Das werde ich nie vergessen. Es war am Abend des 30. Dezember 2019. Ich war im Internet und sah diesen Bericht über einen Augenarzt namens Li Wenliang, der seine Kollegen vor einer Sars-ähnlichen Krankheit warnte. Mir war sofort klar, dass das wirklich schlecht ist. Erst einen Tag später veröffentlichte die städtische Gesundheitskommission von Wuhan eine offizielle Meldung.
Wie reagierten Sie darauf?
Ich schrieb einen Aufsatz für einen Blog, in dem ich versuchte, die wichtigsten Fragen zur neuen Krankheit zu beantworten. Ich nannte sie «die am häufigsten gestellten Fragen». Aber es waren eigentlich einfach die Fragen, die in meinem Kopf herumschwirrten. Bis Ende Januar schrieb ich sechs Blogbeiträge. In einem davon stellte ich bereits die Hypothese auf, dass sich dieses Virus auf der ganzen Welt verbreiten wird.
Was an der Corona-Pandemie hat Sie dann doch überrascht?
Ich war überrascht, ja eigentlich schockiert von der Reaktion meines eigenen Landes, der Vereinigten Staaten. Wir waren eindeutig nicht angemessen vorbereitet.
Und was war für Sie die wichtigste Lehre aus der Pandemie?
Sag: «Ich weiss es nicht», wenn du es nicht weisst. In einer Pandemie gibt es vieles, was unbekannt ist. Virologen, Ärzte, Politiker, Medien müssen offen und ehrlich kommunizieren. Und bei den Menschen nicht zu hohe Erwartungen schüren, wie bei den Impfungen. Da haben Experten viel zu früh eine Herdenimmunität versprochen. Die Kommunikation ist von grösster Bedeutung, sie ist zentral für jeden Krankheitsausbruch.
Sind Sie zum Teil in staatlichem Auftrag unterwegs?
Zu Beginn meiner Karriere arbeitete ich im öffentlichen Gesundheitsdienst bei den National Institutes of Health und beim Militär. Aber schon lange nicht mehr. Wenn man in diesen Systemen arbeitet, kann man nicht die Stimme erheben. Man kann nicht der Erste vor Ort sein. Deshalb ist es für mich besser, unabhängig zu sein. Die Reisen zu diesen Ausbrüchen bezahle ich zum grossen Teil mit meinem eigenen Geld, das ich als Professor verdient habe.
Wie nehmen Sie dennoch Einfluss?
Lassen Sie mich kurz diese Geschichte erzählen. Ende 2015 war ich kurz davor, wegen der Zika-Pandemie nach Brasilien zu reisen. In Washington traf ich eine Ärztin in ihrem Büro und fragte sie, wie es denn sein könne, dass es nur in Brasilien diese Babys mit Mikrozephalie gebe, die mit zu kleinen Köpfen geboren werden. Damals stand noch nicht zweifelsfrei fest, dass Zika die Ursache dafür war. Die Ärztin stand auf und holte Dokumente aus ihrer Schublade. Sie zeigten, dass auch auf Tahiti, wo sich das Zika-Virus schon früher ausgebreitet hatte, infizierte Mütter solche Kinder zur Welt gebracht hatten.
Und dann?
Ich rief einen Kollegen an und sagte ihm, dass vermutlich etwas Schlimmes passiere und wir ein Paper schreiben sollten, um die Weltgesundheitsorganisation zum Handeln aufzufordern. Wir veröffentlichten die Arbeit Ende Januar 2016 in «Jama». Nicht einmal eine Woche später erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Zika-Pandemie zur gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite. Es gibt also sicher diesen zeitlichen Zusammenhang. Ob er auch kausal ist, weiss ich nicht. Ich denke, das Paper hat geholfen.
Was ist das Eindrücklichste, was Sie bei Ihren Reisen erlebt haben?
Mein Einsatz beim Ebola-Ausbruch 2014 in Westafrika. Über Sierra Leone werde ich nicht sprechen. Das war das Schlimmste vom Schlimmsten. Praktisch keiner unserer Patienten hat überlebt. Danach war ich für sechs Wochen in Liberia, für Médecins sans frontières. Wir betreuten Anfang Oktober mehr als 130 Patienten. Wir waren nur drei Ärzte, aber es gab viele Pflegekräfte aus Liberia. Die Patienten lagen in Zelten, in jedem gab es 15 dünne Matten am Boden. Die meisten der Patienten starben nicht an Blutungen. Das passiert nur in den Filmen. Jeder blutete ein wenig. Aber die Patienten starben an Flüssigkeitsmangel, weil sie schwitzten, sich erbrachen und Durchfall hatten. Viel mehr hätten überlebt, wenn wir ihren Flüssigkeitsverlust hätten ausgleichen können.
Wie versorgten Sie diese Menschen?
Es gab keine Labortests, keine Röntgenaufnahmen, keine Bluttransfusionen. Wir Ärzte durften nur 45 Minuten am Morgen und 45 am Nachmittag in die Zelte hinein, um das Risiko zu minimieren, dass wir uns anstecken. Pro Patient hatten wir eine Minute Zeit.
Was konnten Sie dennoch tun?
Wir hatten nicht einmal intravenöse Flüssigkeit. Also versuchten wir, die Menschen am Leben zu erhalten, indem wir die Flüssigkeit oral verabreichten. Die Patienten brauchten nicht nur Wasser, sondern auch Zucker, Natrium und Kalium. Zum Glück verfügten wir über Rehydrationslösung.
Gab es in all dieser Tragik auch schöne Momente?
Einmal kam eine Frau mit ihrem kleinen Enkel zu uns, beide hatten Ebola. Die restliche Familie war bereits daran gestorben. Die Grossmutter war zu schwach, um für das Baby zu sorgen. Also bat ich einen jungen Patienten im Zelt, dem es bereits wieder etwas besser ging, dem Kind regelmässig Flüssigkeit zu geben. Kurz darauf fragte mich eine der Pflegerinnen: Warum nur das Baby? Erst verstand ich gar nicht. Dann war mir klar, was sie meinte: Die Stärkeren im Zelt können den Schwächeren helfen. Das setzten wir um und konnten viele Menschen retten. Auch die Grossmutter und das Baby überlebten. Als der junge Mann, der als Erstes mithalf, wieder gesund war, wollte er das Zelt nicht mehr verlassen. Er blieb einfach, bis die Patienten, die er betreute, auch gesund wurden. Obwohl da drin horrende Bedingungen herrschten, blieben er und auch andere, um Leben zu retten. Das war das Schönste. Es war ein Zeugnis für das Gute im Menschen.
Sie unterrichten noch immer Studentinnen und Studenten. Was ist die wichtigste Botschaft, die Sie Ihnen weitergeben?
Ich habe eine Liste zusammengestellt mit vierzig Gedanken. Sei ehrlich, sei bescheiden und so weiter. Es gibt keine Hierarchie, aber die Liste beginnt mit drei einfachen Wörtern. Sie lauten: antizipieren, erkennen, handeln. Das ist es, was ich zu tun versuche. Ich denke immer darüber nach, was als Nächstes kommt, ich antizipiere. Dann versuche ich zu erkennen, was wichtig ist, das ist zentral. Und schliesslich versuche ich zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu handeln.
Und wie lautet der letzte Gedanke auf Ihrer Liste?
Was als Nächstes kommt, ist bereits da. Wir haben es nur noch nicht erkannt.