Der Wissenschaftsautor Bas Kast trinkt keinen Alkohol mehr. Dafür nimmt er nun oft ein Eisbad. Er fühle sich deswegen nicht moralisch überlegen, sagt er. Doch wann wird die Gesundheit zur Obsession?
Die Medien nennen ihn einen «Ernährungsguru», für seine Leser ist er bloss kompetent. Bas Kast, der Biologie und Psychologie studiert hat, erreicht mit seinen Ratgebern für ein gesundes, langes Leben ein grosses Publikum. Der 51-jährige deutsch-niederländische Autor versteht es, medizinische Studien leicht verständlich aufzubereiten und zu vermitteln. Dabei stellt Kast die Fragen, die ihn persönlich umtreiben, die aber auch im Trend liegen. Alle wollen heute gesund leben – diesen Wunsch weiss er zu bewirtschaften.
Den Bestseller «Der Ernährungskompass» hat er geschrieben, als er seine Ernährung radikal umstellte. Das Buch verkaufte sich über eine Million Mal. Es folgte «Kompass für die Seele», eine Anleitung zu mehr Resilienz, nachdem Kast selber eine psychische Krise durchlitten hatte. Mit seinem neuen Buch «Warum ich keinen Alkohol mehr trinke» trifft er genauso den Zeitgeist. Der Autor weiss, wie er die Leute anspricht, damit sie sich gemeint fühlen. Auch im Online-Gespräch adressiert er oft ein imaginäres Du.
Herr Kast, die Festtage stehen bevor, man stösst an bei Firmenapéros, am Weihnachtsessen und zum Jahreswechsel. Nun sagen Sie, schon ein Glas Wein erhöhe das Krebsrisiko und lasse das Gehirn schrumpfen. Wollen Sie den Leuten die Stimmung verderben?
Es liegt mir fern, irgendjemandem die Freude am Trinken zu nehmen. Ich persönlich trinke zwar keinen Alkohol mehr, das heisst aber nicht, dass ich anderen vorschreibe, was sie zu tun haben. Ich möchte bloss darüber aufklären, dass das «gesunde Gläschen» Wein am Abend von der Forschung zunehmend als Mythos entlarvt wird. Vielleicht ist es besser, mein Buch erst zum «Dry January» zu öffnen.
Im Januar trinken viele Leute keinen Alkohol, getrieben vom schlechten Gewissen, weil sie im Dezember so masslos waren. Liest man Ihr Buch, muss man sagen: Aus gutem Grund gönnen sie sich und ihrem Körper eine Pause.
Alkohol ist viel schädlicher, als man lange annahm. Es ist ein Zellgift, das schon in geringen Mengen krebserregend auf viele Organe wirkt. Diesen Sommer hat nun auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) ihre Richtlinien geändert und spricht nicht mehr davon, dass es unbedenklich sei, ein bis zwei Gläser täglich zu trinken. Sie empfiehlt, vollständig auf Alkohol zu verzichten.
Sie trinken seit zwei Jahren keinen Tropfen mehr. Wie schwer fiel Ihnen der Entscheid?
Alkohol war für mich zeitlebens positiv besetzt. Meine Familie kommt aus der Pfalz, einer Gegend mit ausgeprägter Weinkultur. Mein Urgrossvater war Weinbauer. Wenn wir meine Oma besuchten, sind wir regelmässig zu den Weinfesten gefahren. Man trank den neuen Wein aus Halblitergläsern, es ging fröhlich zu. Meine Eltern tranken moderat, mein Vater Wein, meine Mutter Weissbier. Auch ich wurde so zum Genusstrinker. Unter diesen Umständen hat es mich überrascht, wie leicht mir der Abschied gefallen ist.
Was heisst Genusstrinker?
Ich habe fast jeden Abend beim Essen ein, zwei Gläser Wein getrunken, um zu entspannen und herunterzukommen. Das wurde zur Gewohnheit, ohne dass ich diese grossartig hinterfragt hätte. Es ging mir gut, ich trank selten so viel, dass ich am andern Morgen verkatert war. Schliesslich dachte ich aber auch an meine Söhne. Ich habe das Entkorken einer Flasche Sekt meinen Kindern gegenüber zelebriert. Die haben gejubelt, wenn der Korken an die Decke knallte oder durch den Garten flog. Mit den immer kritischeren Befunden über Alkohol begann ich mich zu fragen: Ist es richtig, aus dem Trinken ein so lustiges Spektakel zu machen? Nein, ist es nicht.
Wann vermissen Sie den Alkohol?
Im Sommer denke ich schon einmal: Wie schön wäre jetzt ein kühles Bier! Oder bei einem Essen zu einem besonderen Anlass scherzen meine Frau und ich, dass jetzt nur ein schönes Glas Wein fehlt. Wir haben noch Wein im Haus, aber den brauchen wir einzig zum Kochen. Ich habe das Glück, dass meine Frau fast gar nicht trinkt. Es ist einfach normal geworden, meine neue Normalität.
Es ist ein radikaler Entscheid, gar nichts mehr zu trinken. Das hat auch wieder etwas Zwanghaftes. Könnten Sie nicht einfach gemässigter trinken wie Ihre Frau?
Das funktioniert bei mir nicht. Ich bin ein anderer Trinkertyp. Ich entkorke eine Flasche Wein, um ein Glas zu trinken. Was mache ich mit dem Rest der Flasche? Ich ticke so, dass ich am nächsten Tag sagen würde: Okay, jetzt ist die Flasche offen, es wäre schade, sie vergammeln zu lassen. Oder ich fange an, mit mir selber zu argumentieren: Fülle ich ein Glas, oder verzichte ich nicht doch lieber? Auf diesen inneren Kampf habe ich keine Lust mehr. Meine Frau kennt das nicht. Sie trinkt ein Glas und vergisst die angebrochene Flasche.
Ist Nüchternheit der neue Rausch?
Alkohol macht abhängig, also unfrei. Wenn man aufs Trinken verzichtet, gewinnt man Freiheit dazu. Und in dieser Kontrolle über das eigene Schicksal kann sicher auch ein Moment von Freude liegen. Mein Entscheid, nichts mehr zu trinken, bringt mir auf jeden Fall eine langfristige Befriedigung und kann sogar Spass machen. Ich tue für mich und meine Kinder etwas Gutes.
Für viele klingt ein Leben ohne Alkohol freudlos und sinnenfeindlich. Ihnen macht es Spass?
Alkohol ist eine billige Form von Dopaminkick. Es kostet keine Mühe, eine Flasche zu entkorken und das Glas zu heben. Man kann sich auch mit anderen Techniken ein Hoch bescheren. Es kostet Mühe, Überwindung und Mut, in einen kalten See zu steigen, sich dem Schmerz auszusetzen, doch danach erfährt man auch so etwas wie einen Dopaminkick. Dasselbe gilt für ein hartes Fitnesstraining. Ich mache jetzt abends ein Work-out, um meinen Arbeitsstress abzubauen. Auch Meditation hilft, um mit unangenehmen Gefühlen umzugehen, oder Yoga, Sauna, regelmässiges Joggen. Für viele soll der Alkohol ein Problem lösen. Aber Alkohol löst keine Probleme.
Eisbad statt Feierabendbier: Sie sind streng mit sich.
Das mag so wirken. Aber man erfährt dabei eine Selbstermächtigung. In diesem Sinn kann es mir einen Genuss bereiten, mich so zu disziplinieren.
Man hat oft den Eindruck, Nüchterne fühlten sich moralisch überlegen. Sie wählen das gute, gesunde Leben und schauen mit Verachtung auf die Berauschten, die nicht zu Selbstkontrolle fähig sind. Können Sie verstehen, dass das nervt?
Ja. Es ist ähnlich mit Vegetariern, die anderen das Gefühl vermitteln, etwas falsch zu machen. Nämlich Tiere zu essen. Aber ich fühle mich nicht besser, weil ich keinen Alkohol mehr trinke. Ich würde mein altes Ich für dumm erklären, da ich jahrzehntelang selber getrunken habe. Es wäre aber auch geheuchelt, wenn ich Daten zur Schädlichkeit von Alkohol präsentiere, ohne dass dies Einfluss auf mein persönliches Verhalten hätte.
Die Leute trinken weniger, auch junge Menschen. Klubs beklagen sich, dass viel weniger Alkohol konsumiert würde. Die Jungen sind so angepasst, negativ ausgedrückt: biederer. Freut Sie das?
In meinen Ohren klingt das selbstbewusst, cool. Gleichzeitig haben immer noch viele junge Leute das Gefühl: Wenn ich nicht trinke, gehöre ich nicht dazu und bin ein Langweiler. Darum ist es wichtig, den Jungen zu vermitteln: Es ist okay, nicht zu trinken. Es gab eine Zeit, wo sogar Ärzte öffentlich rauchten und sich ein Cowboy-Image gaben. Heute ist es selbstverständlich, dass man auch männlich sein kann, ohne zu rauchen. Ich persönlich finde es auch männlicher, den Schmerz des Lebens auszuhalten, ohne ihn gleich wegtrinken zu müssen.
Alkohol spielt eine wichtige Rolle in der Liebe und der Sexualität. Er ermutigt Schüchterne, den ersten Schritt zu machen, Gehemmte lassen sich leichter fallen. Laut Studien haben die Leute weniger Sex, was auch am sinkenden Alkoholkonsum liegt. Darf man das bedauern?
Hallo? Es ist vielmehr traurig, wenn Sex nur noch mit Alkohol geht! Wenn es zuerst zwei, drei Drinks braucht, um auf einer Party auf eine Frau oder einen Mann zuzugehen, weil einem der Mut fehlt. Ist das echter Mut? Braucht es nicht viel mehr Mut, jemanden ohne Schwips anzusprechen und dabei eine Abfuhr zu riskieren? Generationen unserer haarigen Vorfahren in der afrikanischen Savanne haben es geschafft, ohne Alkohol Sex zu haben. Und wir sind dazu nicht mehr in der Lage?
Die Abstinenz erspart uns auch schlechten Sex.
Die Enthemmung hat eine dunkle Seite. Leute werden unter Alkoholeinfluss gewalttätig und verursachen Verkehrsunfälle. In enthemmtem Zustand kann man sein Leben ruinieren oder das Leben anderer, und dies bloss für einen kurzfristigen Rausch.
Am Anfang Ihres neuen Buchs steht Ihre eigene Alkoholabstinenz. Beantworten Sie mit jedem Buch Ihre gerade drängenden Lebensfragen?
Ich habe das grosse Glück, dass ich in diesem Beruf über Dinge schreiben kann, die mich im Innersten bewegen und mich täglich umtreiben. Ich recherchiere ein Thema während Monaten oder Jahren, ohne mit Aussenstehenden zu sprechen, isoliere mich. Viele würden sagen: Na, das ist doch nicht reizvoll, morgens aufzustehen, und zum Frühstück gibt es einen Stapel mit zwanzig, dreissig drögen Studien, der abgearbeitet werden muss. Die Studien lesen sich selten wie ein Kriminalroman. Ein Thema muss mich also schon brennend interessieren, damit ich darüber ein Buch schreibe.
Was beschäftigt Sie im Moment?
Nahrungsergänzungsmittel – mir fehlt ein Buch, das einen guten Überblick gibt. Da herrscht noch viel Unwissen. Ich hielt das alles lange für Blödsinn. Man nimmt irgendein Supplement, das kaum erforscht ist, gibt viel Geld aus und schadet sich im schlimmsten Fall körperlich. Influencer auf Instagram preisen solche Pillen hemmungslos euphorisch an. Der Longevity-Freak Bryan Johnson schluckt mehr als hundert Pillen am Tag, angeblich alles evidenzbasiert. Dazu lese ich gerade sehr viele Studien. Aber ehrlich gesagt, macht die Arbeit nicht nur Spass.
Warum tun Sie es dann?
Das Thema Nahrungsergänzungsmittel fasziniert mich, sonst würde ich es sein lassen. Aber ich versuche immer, mich selbst zu hinterfragen, ob das, was ich tue, sinnvoll ist. Bei diesem Thema gibt es viele falsche Behauptungen. Ich komme mir manchmal vor wie einer, der auszieht, um Verschwörungstheorien zu widerlegen.
Erhöhen Ratschläge, wie Sie sie geben, nicht den Druck auf den Einzelnen, weil damit gesagt wird: Falls du krank wirst, bist du selber schuld, da du zu wenig gesund gelebt hast?
Wir haben ein einzigartiges Leben. Wenn man auf seine Gesundheit achtet, kann man viel Leid vermeiden. Es ist normal geworden, uns im Lauf des Lebens drei, vier chronische Erkrankungen zuzuziehen. Rheuma, Diabetes, Bluthochdruck. Mit etwas Voraussicht könnte man sich im Alter viel ersparen. Entweder man zahlt jetzt einen kleinen Preis oder später einen hohen.
Viele Leiden sind doch auch genetisch bedingt.
Vieles ist genetisch, aber eben lange nicht alles. Bluthochdruck zum Beispiel ist bei vielen von uns eindeutig darauf zurückzuführen, dass wir zu viel Salz essen, uns zu wenig bewegen und übergewichtig sind. Alkohol trägt übrigens auch dazu bei. Forscher haben bei nahezu vierzig Naturvölkern festgestellt, dass diese selbst im hohen Alter nicht unter hohem Blutdruck leiden, wie er bei uns typisch ist.
An irgendetwas muss man sterben, könnte man einwenden. Woher kommt diese Obsession mit der Gesundheit?
So wie manche es mit dem Alkohol übertreiben, so übertreiben es einige natürlich auch mit der Gesundheit, um die sich dann alles dreht. Es erscheint mir ziemlich ungesund, wenn man nachts wach liegt vor lauter schlechtem Gewissen, weil man dem Körper am Tage eine gesättigte Fettsäure zugeführt hat. Auch mir wird vorgeworfen, ich hätte eine Gesundheitsobsession, als würde ich den ganzen Tag nur an Blaubeeren und Omega-3-Fettsäuren denken. Ich kann Ihnen versichern: Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, ich versuche gesund zu leben, damit ich mich um wichtigere Dinge im Leben kümmern kann, wie meine Familie und meine Arbeit.
Bas Kast: Warum ich keinen Alkohol mehr trinke. Eine Entscheidungshilfe auf Basis neuester wissenschaftlicher Studien. C.-Bertelsmann-Verlag, München 2024. 112 S., Fr. 29.90.