Die Martin-Stiftung betreibt ein Wohnhaus an abgeschiedener Lage hoch über dem Zürichsee – und widerspricht damit bewusst dem Prinzip der Inklusion.
Das Mobiliar in der Wohngruppe Smaragd ist praktisch unzerstörbar. In den Fensterscheiben ist Sicherheitsglas eingebaut, die Wände sind schallgedämmt. Das Personal kann bei jedem Zimmer von aussen die Wasser- und die Stromzufuhr ausschalten, falls eine Bewohnerin oder ein Bewohner den Raum flutet oder den Lichtschalter überstrapaziert.
Die Ausstattung der Zimmer ist aufwendig: In die Türe ist ein Fenster eingelassen, so dass Bewohner und Betreuer in einer Krise gesichert miteinander kommunizieren können. Und in den Boden ist ein Abfluss eingelassen – damit das Zimmer bei «Fäkalvandalismus» einfach gereinigt werden kann.
Die Wohngruppe für sechs Personen ist Teil des neuen Wohnhauses Rütibühl in Herrliberg hoch über dem Zürichsee, das Anfang Juni eröffnet wird. Es verfügt über ein Angebot, wie es nur wenige gibt in der Schweiz: Es wurde speziell für Menschen konzipiert, die aufgrund ihrer Behinderung stark reizempfindlich sind. Bei Überforderung können sie gewalttätig werden und sich selbst oder ihr Umfeld gefährden. Deshalb ist die Wohngruppe auch mit einem weich gepolsterten Kriseninterventionsraum ausgestattet, in dem die Bewohner zur Ruhe kommen können.
Eine Infrastruktur wie in einer Psychiatrie: Braucht es das wirklich in einem Wohnheim?
«Ja», sagt Nicole Rode. Sie ist Mitglied der Geschäftsleitung der Martin-Stiftung, die das Wohnheim betreibt. Denn mit Reizüberflutungen zu kämpfen hätten besonders Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Früher seien diese oft in Psychiatrien untergebracht worden, sagt Rohde. Doch Psychiatrien seien nicht darauf ausgelegt, solche Menschen zu behandeln, und zudem der falsche Ort für Menschen, denen schon geringste Reize Schwierigkeiten bereiten.
Gleichzeitig ist die Betreuung solcher Menschen eine Herausforderung für konventionelle Institutionen. Denn bei den meisten steht die Teilhabe von Menschen mit einer Behinderung an der Gesellschaft ganz oben auf der Prioritätenliste. Die Einrichtungen sollen sich möglichst mitten in der Gemeinde befinden, mit öffentlichem Café, eigenem Laden und Räumen, die auch extern vermietet werden.
Auch die Martin-Stiftung geht diesen Weg: Ihr Hauptsitz in Erlenbach liegt mitten im Dorf. Sie betreibt eine eigene Gärtnerei und einen kleinen Lebensmittelladen. Insgesamt bietet die Stiftung Wohn- und Arbeitsplätze für 170 Personen.
Das Wohnhaus Rütibühl hingegen scheint dem Konzept von Inklusion zu widersprechen. Es liegt weitab vom Siedlungsgebiet hoch über dem Zürichsee, umgeben von Landwirtschaft und Wald, die nächste Busstation ist eineinhalb Kilometer entfernt. Im Jahr 1952 wurde hier das Heim Rütibühl gebaut, eine Institution nur für Frauen.
Die Lage sei ideal für kognitiv beeinträchtigte Menschen, die auf ein ruhiges Umfeld angewiesen seien, sagt Annemarie Grether-Escher. Sie ist Präsidentin des Stiftungsrats der Martin-Stiftung und überzeugt: Inklusion funktioniert auch in der Abgeschiedenheit.
Dieser Pragmatismus hat auch damit zu tun, dass die Entwicklungsmöglichkeiten für das Grundstück stark eingeschränkt sind. Es liegt in der Landwirtschaftszone mit besonderen Nutzungen. Wohnungen oder ein Hotel dürfen hier nicht gebaut werden.
Durchaus zum Bedauern der Martin-Stiftung, wie Annemarie Grether-Escher einräumt: Bei einem Verkauf hätte das Grundstück einen Millionenerlös eingebracht, mit dem die Stiftung ihr Angebot an Wohnungen und Wohnhäusern in Küsnacht, Erlenbach und Stäfa hätte erweitern können. Gleichzeitig ist die Nachfrage im Kanton Zürich nach Wohnraum, wie ihn das Rütibühl bietet, gross. Sie übersteigt das Angebot. Deshalb sei es nicht infrage gekommen, das alte Heim zurückzubauen und das Land ungenutzt zu lassen, sagt Grether-Escher.
Der Neubau direkt am Waldrand ist einem Weiler nachempfunden, wie es sie in der Umgebung viele gibt: Die insgesamt 32 Personen leben in vier Wohngruppen mit einem offenen, begrünten Innenhof. Zur Anlage gehören ein Gemeinschaftszentrum und eine Cafeteria. Diese ist allerdings nicht öffentlich und steht nur dem Personal, den Bewohnern und deren Besuch zur Verfügung.
Ein bewusster Entscheid, wie Grether-Escher sagt: Zu viel Betrieb würde die Bewohnerinnen und Bewohner überfordern. Trotzdem soll das Areal nicht den Eindruck einer geschlossenen Einrichtung vermitteln. Es ist von aussen einsehbar, der Wanderweg führt direkt an den Wohnhäusern vorbei. Sollte sich herausstellen, dass die Bewohner mehr Kontakt zur Bevölkerung wünschen, könnte das Café öffentlich zugänglich gemacht werden.
Auch die sechs Bewohner, die in der Wohngruppe Smaragd leben, sollen nicht komplett von der Aussenwelt abgeschnitten sein. Sie verfügt über einen gesicherten Garten, zudem ist jedes Zimmer mit einer gesicherten Loggia ausgestattet, der Blick geht ins Grüne. So soll den Bewohnerinnen und Bewohnern, die viel Zeit in der Wohngruppe verbringen, eine gewisse Bewegungsfreiheit ermöglicht werden.
Die Einschränkungen in dieser Wohngruppe mögen als einschneidend empfunden werden. Tatsächlich ist sie nicht als dauerhafte Lösung gedacht: Maximal ein Jahr sollen Bewohnerinnen und Bewohner hier leben und anschliessend in einer regulären Wohngruppe unterkommen, wenn sich ihre Lebensumstände gefestigt haben.
Bauen für Menschen mit einer Beeinträchtigung ist teuer. 26 Millionen Franken kostet der Neubau Rütibühl, der Beitrag des Kantons deckt knapp 30 Prozent. Das sei eigentlich viel zu wenig, sagt die Stiftungsratspräsidentin Annemarie Grether-Escher – auch deshalb, weil die Martin-Stiftung einen Leistungsauftrag des Kantons erfüllt. Das Betriebskonzept entstand in Absprache mit dem Sozialamt.
So sind in der Wohngruppe Smaragd zwei sogenannte Time-out-Plätze für Menschen in Krisensituationen vorgesehen, die auch den Partnerorganisationen der Stiftung zur Verfügung stehen. Diese Plätze sollen Einweisungen in eine Psychiatrie verhindern.
70 Prozent der Kosten muss die Stiftung über Eigenmittel, Darlehen und Hypotheken abdecken. Kein einfaches Unterfangen, wie sich nun zeigt. 6 Millionen Franken an Spenden will die Stiftung generieren. Zusammengekommen sind erst 4,6 Millionen. Die Stiftungsratspräsidentin erklärt sich dies mit der schwierigen Weltlage aufgrund der Pandemie und der Kriege.
Die Martin-Stiftung hat sich dagegen entschieden, aus Kostengründen auf gewisse Angebote zu verzichten, etwa auf die Garage. «Ohne Parkplätze für das Personal geht es an dieser abgeschiedenen Lage nicht», sagt Grether-Escher. Zusätzlich stellt die Stiftung einen Shuttle-Service für die Mitarbeitenden zur Verfügung.
Gute Arbeitsbedingungen seien zentral, um das Personal halten zu können. Den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen spürt auch die Stiftung. Wenige Wochen vor der Eröffnung des Neubaus sind noch immer einige Stellen frei. Doch die Verantwortlichen sind zuversichtlich. «Es kommen Bewerbungen rein», sagt die Stiftungsratspräsidentin.
Weit weg vom Trubel zu arbeiten, hat auch Vorteile: Dichtestress gibt es im «Weiler» Rütibühl garantiert nicht.