Das Wetter ist schlecht, die Steuern hoch, und jetzt will die Regierung auch noch sparen. Die Finnen sind unzufrieden – und angeblich doch die Glücklichsten. Eine Reise im Land der Widersprüche.
Mitte April im glücklichsten Land der Welt. In einer finnischen Kleinstadt steht ein Mann in einer Bar. Er singt über verlorene Liebe und Trennungsschmerz. 200 Kilometer entfernt, in der Hauptstadt Helsinki, schwankt ein Randständiger durch die Aula der Zentralbibliothek. Und noch ein paar Kilometer weiter südlich, auf der Fähre von Helsinki nach Tallinn, drängen sich Seniorinnen und Senioren vor dem Weinzapfhahn, um ihre Gläser zu füllen. Ganz nach oben, bis zum Rand.
Dieses Jahr ist Finnland zum siebten Mal in Folge auf dem ersten Platz des «World Happiness Report» der Universität Oxford gelandet. Viele Finninnen und Finnen begegnen der Studie mit Skepsis. Die Gründe, die Glücksforscher für den Spitzenplatz nennen – die Natur, das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung –, können nicht so recht überzeugen. Sparprogramme, Inflation und kürzlich ein Amoklauf: Das beschäftigt die Bevölkerung weit mehr.
Woher also kommt das Glück der Finnen? Eine Reise durch ein Land der Widersprüche.
1. Station: Die Karaoke-Bar in der Provinz
Die Suche nach dem Glück beginnt an einem Montagabend im Pikku-Pete-Pub in Ylöjärvi, einer Kleinstadt im Westen Finnlands. Riku Soininen, 56, und Helena Tyyskä, 47, kommen jede Woche hierher, um Karaoke zu singen. Auf dem Tisch stehen halbleere Biergläser und eine Leuchttafel mit der Aufschrift «Die Fröhlichen».
Karaoke ist in Finnland so etwas wie ein Nationalsport. Man spricht nicht gerne, aber singt dafür umso lieber. Tyyskä sagt es so: «Wir sind melancholisch, und Singen ist für uns wie Therapie.» Soininen ergänzt: «Jeder Mensch hat irgendwo das Bedürfnis, sich auszudrücken. Karaoke hilft einem dabei, sich zu öffnen.»
Die zwei haben 2016 den Verein «Die fröhlichen Karaokesänger» gegründet. Alle sind willkommen, sängerisches Talent hin oder her. Die Mitglieder sind zwischen 16 und 80 Jahre alt. Gemeinsam tingeln sie durch die Karaokebars im ganzen Land, nehmen an Meisterschaften teil und singen im Altersheim. Manche haben im Verein nicht nur Freundschaften, sondern auch die Liebe gefunden.
Finnland ist nicht nur das glücklichste Land der Welt, sondern auch eines der einsamsten. In einer Erhebung des statistischen Amtes gibt fast ein Drittel der über 16-Jährigen an, sich die meiste Zeit oder immer einsam zu fühlen. Glücksforscher bezeichnen soziale Beziehungen als wichtigste Bedingung für ein glückliches Leben. Wie passt das zusammen?
Gut, findet Helena Tyyskä. Um Glück zu empfinden, müsse man sich auch einmal niedergeschlagen fühlen. «Im langen Winter können wir uns in Ruhe zurückziehen und trübselig sein.» Nach der Dunkelheit wisse man das Licht, die Wärme, die Begegnungen viel mehr zu schätzen. «Finninnen und Finnen sind mit wenig zufrieden – vielleicht mit weniger als andere.»
Sind die Menschen hier also gar nicht glücklich, sondern einfach genügsam? Vielleicht. Finnland hat sich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte stark gewandelt. Aus einem kriegsversehrten Land wurde ein moderner Sozialstaat. Die älteren Generationen erinnern sich noch daran, wie es früher war. Riku Soininen sagt: «Glück ist ein seltsames Wort. Aber wir haben in Finnland sicher weniger Probleme als anderswo auf der Welt.»
Weniger Probleme, das bedeutet für ihn: eine Wohnung zu haben und ein Schulsystem, das allen zugänglich ist. Eine öffentliche Gesundheitsversorgung und die Möglichkeit, Hobbys nachzugehen. Aber auch: eine homogene Gesellschaft. Nachbarn, die die gleiche Kultur leben und dieselben Werte teilen wie er.
Aber so homogen ist Finnland gar nicht. Ein ideologischer Graben trennt die urbanen Gebiete von der Provinz. Je tiefer der Ausländeranteil, desto grösser die Angst vor Überfremdung. In Ylöjärvi liegt der Ausländeranteil bei 1,5 Prozent. Die stärkste politische Kraft in der Kleinstadt ist die rechtskonservative Finnenpartei, die sich gegen Einwanderung einsetzt.
Die Polarisation geht über das Migrationsthema hinaus. Das zeigt sich 200 Kilometer entfernt, in der Hauptstadt Helsinki. Dort hat Anna-Maria Soininvaara das Glück an einem Ort gefunden, der für ein Finnland steht, das sich die einen herbeiwünschen und vor dem man sich im Pikku-Pete-Pub fürchtet.
2. Station: Die Stadtbibliothek
Die Zentralbibliothek Oodi in Helsinki ist das, was das progressive Finnland sein möchte: ein Ort, an dem alle willkommen sind – vom Universitätsprofessor bis zum Obdachlosen, von der Migrantin bis zur Finanzministerin. Die Toiletten sind hier genderneutral, das Essen in der Cafeteria weitgehend klimafreundlich. Liegt hier der Schlüssel zum finnischen Glück?
Die Bibliotheksleiterin Anna-Maria Soininvaara, 65, hat Oodi zu jenem Ort gemacht, der die Bibliothek heute ist. Diese sei mehr als eine Büchersammlung, sagt sie. «In einer Gesellschaft, die auseinanderdriftet, ist es unsere Aufgabe, alle einzubeziehen.»
Was das konkret bedeutet, kann man an diesem Morgen beobachten. In der Aula spielen zwei Mädchen Schach, während ein paar Meter weiter ein Mann mit ungepflegten langen Haaren durch die Glastüren nach draussen schwankt. Im ersten Stock spielen eine Seniorin und ein kleiner Junge ein Videospiel im Playstation-Zimmer. Nebenan arbeitet eine Migrantin an einer Nähmaschine. Im Büchersaal stöbert ein älterer Herr in Biografien. Mütter schauen ihren Kindern beim Spielen zu.
Doch auch in Oodi funktioniert das Nebeneinander nicht immer problemlos. Kurz nach der Eröffnung entdeckten bettelnde Roma die Bibliothek für sich. Die Bibliothek hiess sie willkommen, wollte gar einen Finnischkurs für sie organisieren. Es folgte ein Shitstorm in den sozialen Netzwerken. Auch Drogensüchtige, die die Toiletten als Fixerstübli nutzen, sorgen immer wieder für Schlagzeilen.
Finnland – das Land, das 1906 als erstes das Frauenstimmrecht einführte – ist kein progressives Paradies. Soininvaara sagt: «Die Gleichstellung wurde in Finnland noch nicht erreicht.» Das bestätigt auch die Statistik. So ist die Arbeitslosigkeit unter Migrantinnen und Migranten höher als in der restlichen Bevölkerung. Jugendliche, die einer sexuellen Minderheit angehören, werden häufiger bedroht als andere. Und das indigene Sami-Volk in Lappland kämpft immer noch um das Recht auf Selbstverwaltung.
Das Glück hat Soininvaara in kleinen Dingen gefunden: etwa beim Lesen. In der finnischen Kultur hätten Bücher einen hohen Stellenwert, sagt sie. «Sie erweitern den Horizont und fördern das Verständnis für fremde Lebensrealitäten.»
Doch die Lesekompetenz nimmt ab, auch in Finnland. Das zeigen die Ergebnisse der letzten Pisa-Studie. Statt zwischen Buchdeckeln bewegen sich die Menschen in den Filterblasen der sozialen Netzwerke. Was bedeutet das für den sozialen Zusammenhalt? Um das herauszufinden, muss man an einen Ort gehen, wo sich die Menschen noch begegnen, der Generationen von Finninnen und Finnen verbindet: die Ostseefähre.
3. Station: Die Kreuzfahrt
Als das Passagierschiff «Victoria I» in Helsinki ablegt, fegt ein Schneesturm über das Deck. Die Schlager-Kreuzfahrt nach Tallinn lockt vor allem Senioren an. Dutzende ältere Damen und Herren haben kurz zuvor ihre Rollkoffer über die Laufplanke geschoben. Am Eingang des Schiffs blicken sie etwas verloren um sich, bis sie von einem strahlenden jungen Mann in die richtige Richtung gelotst werden.
Rami Kiiskinen, 27, arbeitet auf der «Victoria I» als Cruise-Host. Auf dem Schiff hat er seinen Traumjob gefunden – und das Glück, wie er selbst sagt. Er sei überhaupt nicht überrascht gewesen, dass Finnland das glücklichste Land der Welt sei. «Wir Finnen beschweren uns ständig – über das Wetter, über die Steuern und über die Preise. Aber eigentlich geht es uns doch richtig gut.»
Kiiskinen kennt auch ein anderes Leben: Er wuchs als Sohn tauber Eltern in armen Verhältnissen in einem kleinen Dorf im Norden Kareliens auf. Vielleicht, sagt er, liege das Glück der Finnen auch im «Sisu» – der Fähigkeit, Widrigkeiten hartnäckig zu überstehen. «Sisu» ist eine Eigenschaft, die sich die Finnen gern und oft zuschreiben. Für das Wort gibt es in keiner anderen Sprache eine passende Übersetzung. Kiiskinen sagt: «Wir nehmen die Dinge nicht als selbstverständlich. In schwierigen Zeiten freuen wir uns auch über die kleinen Dinge.» Und dann sei da der Staat, der sich in der Not um einen kümmere – von der Geburt bis ins Grab.
Kiiskinen wurde 2017 zum Mr. Gay Finnlands gewählt. Im selben Jahr legalisierte Finnland die Ehe für homosexuelle Paare. Heute dürfen sie Kinder adoptieren, und weibliche Paare haben Zugang zu subventionierter Reproduktionsmedizin. «Die Antwort auf die Frage, ob die Gleichstellung in Finnland erreicht wurde, hängt sicher davon ab, wen man fragt – aber doch, ich fühle mich hier gleichwertig behandelt», sagt Kiiskinen.
Mit steigendem Alkoholpegel steigt auch die Stimmung auf dem Schiff. Am Buffet hat sich vor dem Weinzapfhahn eine Schlange gebildet. Im Nachtklub tanzen Paare zu finnischer Schlagermusik. Ein Teenager erzählt seinem Kumpel von den Alkoholproblemen seines Vaters. Zwei betrunkene Männer im Alter um die 40 karren Einkaufswagen voll Dosenbier zum Fahrstuhl und versuchen unterwegs mit einem anderen Passagier einen Streit vom Zaun zu brechen. Ein typischer Abend auf der Ostseefähre.
Der billige Alkohol und das Fernweh locken das Volk seit Generationen auf das Meer. Jarmo Pitkänen, 78, lehnt draussen auf dem Deck an die Reling und raucht eine Zigarette. Der Schneesturm hat nachgelassen, aber es bläst ein eisiger Wind. Weder das Wetter noch das Sparpaket der Regierung können Pitkänen etwas anhaben. «Es gibt immer irgendwelche Probleme, so ist das im Leben», sagt er.
Dass die Regierung auch Renten stärker besteuern will, hat tags zuvor zu einem Aufschrei in den finnischen Medien geführt. Pitkänen sieht es gelassen: «Die vorherige Regierung hat das Geld mit beiden Händen ausgegeben, jetzt müssen wir uns eben alle an der Sanierung der Staatskasse beteiligen.» Wichtiger seien andere Dinge: dass er seit 1968 verheiratet sei, keine gesundheitlichen Probleme habe und alle drei Monate auf das Schlagerschiff könne. Um den Alkohol gehe es ihm dabei nicht – «ich trinke nur fünf, sechs Drinks» –, sondern um die sozialen Kontakte. «Reden ist wie Therapie.»
Drinnen vor der Bar steht Tarja Aarnio-Anthoni und hört den Karaokesängern zu. Die Seniorin ist wie Pitkänen ein Stammgast. Seit sie verwitwet ist, kommt sie zweimal pro Monat auf die Fähre nach Tallinn – immer allein. Einsam sei sie dennoch nicht. Mit dem Cruise-Host Rami Kiiskinen hat sie sich inzwischen angefreundet. «Das Schiff ist eine eigene Welt. Man begegnet hier Menschen, die man sonst nie treffen würde.»
Das grosse Glück der Finnen hält Aarnio-Anthoni für einen Messfehler: «Als ich von der Studie gehört habe, dachte ich mir: Nein, die Menschen sind nicht glücklich.» Unterwegs zum Schiff habe sie einen alten Mann beobachtet, der im Mülleimer nach Pfandflaschen gesucht habe. Auch das sei Finnland. «Es können nicht alle glücklich sein – und das müssen sie auch nicht.»
Als die «Victoria I» in Tallinn anlegt, geht die Party weiter. Nur wenige Passagiere verlassen das Schiff. Unter ihnen ist ein Mann, der von der Polizei auf die Fähre begleitet wurde. Er wird des Landes verwiesen. Das Glück – woraus auch immer es besteht – gibt es auch in Finnland nicht für alle.