Nach der Aufgabe der Stadt Awdijiwka bittet der ukrainische Präsident Selenski die westlichen Unterstützer dringend um Waffen- und Munitionslieferungen. Doch die wird es wohl so schnell nicht geben. Entsprechend deprimierend war die Stimmung an der Münchner Sicherheitskonferenz.
Es ist der Name einer ukrainischen Kleinstadt, der sinnbildlich steht für die Stimmung an der 60. Münchner Sicherheitskonferenz. Als Präsident Wolodimir Selenski am Wochenende blass und erschöpft in das Veranstaltungshotel «Bayerischer Hof» kam, war Awdijiwka, seit Monaten ein Bollwerk der Verteidiger im Donbass, gefallen. Die Ukrainer hatten sich zurückgezogen. Wladimir Putin erkaufte sich diesen Erfolg mit hohen Verlusten, doch zählen dürfte für den russischen Machthaber vor allem, was am Ende steht: eine zunehmend ausgelaugte, bedrückte Ukraine, die nun nicht zuletzt den Preis für die westliche Politik der Unentschlossenheit und des Lavierens zahlen könnte.
Entsprechend deprimierend war die Stimmung in München. Nachdem im vergangenen Jahr an selber Stelle in Anbetracht der bevorstehenden ukrainischen Offensive noch Optimismus geherrscht hatte, breitete sich nun eine Atmosphäre aus, die Züge einer stillen westlichen Neigung zur Kapitulation trug. Selenski, wie so häufig seit dem russischen Überfall zu solchen Anlässen nicht in Anzug, sondern in schwarzem Pullover, Cargohose und Militärstiefeln, schien das zu spüren.
Auch wenn der Westen nicht genug Waffen und Munition liefert, bemühte sich der ukrainische Präsident in seiner emotionalen und teilweise wütend anmutenden Rede um Diplomatie gegenüber seinen Unterstützern. Die Demokratien schwächten sich durch ihre stockenden Hilfen an sein Land selbst, sagte er und fügte hinzu: «Fragen Sie bitte nicht die Ukraine, wann der Krieg enden wird. Fragen Sie sich selbst, warum Putin in der Lage ist, ihn weiterzuführen.» Darin steckt der implizite Vorwurf, der Westen trage eine Mitschuld an der Aufgabe Awdijiwkas.
Die eigenen Soldaten als ukrainische «Hauptwaffe»
Seit Monaten befindet sich die Ukraine wegen fehlender Munition in der Defensive. Russland aber zeigt sich in der Lage, immer neue Truppen und Material an die Front zu bringen. Putins Vorteil liege in der völligen Entwertung menschlichen Lebens, er schicke seine Soldaten ohne Gnade in den Tod, sagte Selenski. Doch zugleich fehlten ihm, Selenski, weit reichende Waffen und Artilleriemunition, so dass nunmehr die eigenen Soldaten die ukrainische «Hauptwaffe» in diesem Krieg seien.
Ende vorigen Jahres hiess es in den westlichen Hauptstädten düster, 2024 werde das «Jahr der Wahrheit» für die Ukraine. Das scheint sich zu bestätigen. Denn es sieht so aus, als könnte der Munitionsmangel so schnell nicht abgestellt werden. Deutschlands Anteil an dieser Situation ist nicht gering. Es mussten zwei Jahre vergehen, ehe die Bundesregierung der deutschen Rüstungsindustrie die erforderlichen verbindlichen Auftragszusagen machte, so dass nun die Munitionsproduktion hochgefahren wird. Doch es nutzt der Ukraine nichts, wenn erst in zwei bis drei Jahren genügend Artilleriegranaten an der Front eintreffen. Dann hat sie den Krieg möglicherweise verloren.
Die bedrohliche Lageentwicklung in Osteuropa traf in München zusammen mit der Blockade eines 60-Milliarden-Hilfspakets für die Ukraine durch die Republikaner im US-Kongress. Die Frustration der Europäer darüber war ebenso spürbar wie ihre Ratlosigkeit. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz und Mitglieder seiner Regierung dürften ebenso wie Selenski und andere europäische Spitzenpolitiker versucht haben, die nach München gereisten amerikanischen Senatoren und Kongressmitglieder entsprechend zu bearbeiten. Von dieser Absicht war jedenfalls vor der Konferenz in Berlin vielfach die Rede gewesen.
Übernimmt Europa die Kosten des US-Militärpakets?
Immer wieder hiess es jedoch, dass keine schnelle Entscheidung in Washington zu erwarten sei. Da es dabei offenbar vor allem ums Geld geht, könnten, so war zu hören, möglicherweise die Europäer einen Weg aus der vertrackten Lage ebnen, indem sie die US-Waffen bezahlen. Für die Genehmigung der Lieferungen braucht Präsident Joe Biden den Kongress nicht.
Denn das, was die Ukraine und mit ihnen die Europäer nicht haben, ist Zeit. Selenski und seine Streitkräfte befinden sich in einer immer brisanteren Lage. Umso auffälliger ist die Art und Weise, wie der deutsche Kanzler auch in München wieder auftrat. Seine Rede wirkte uninspiriert, einen Appell an die deutsche Öffentlichkeit für einen entschiedenen Kampf gegen Putin enthielt sie wider Erwarten nicht. Die wichtigste Botschaft lautete, die europäischen Partner müssten die Ukraine noch stärker unterstützen. Man könnte dies als einen Fingerzeig verstehen, wenn es darum geht, dass die Europäer möglicherweise beim amerikanischen 60-Milliarden-Paket in die Bresche springen.
Dennoch gibt es immer wieder Rätsel auf, warum Scholz in der Ukraine-Frage seit gut zwei Jahren so zurückhaltend und gehemmt agiert. Wer ihn beobachtet, fragt sich, was ihn umtreibt. Der Aufstieg der AfD offenkundig nicht, seine schlechten Umfragewerte nicht, auch die ständigen Streite in der Ampelregierung nicht. Er wirkt, als gehe ihn das alles kaum etwas an, als beschäftige ihn etwas, das alles andere nachrangig erscheinen lässt.
Spekulationen über Olaf Scholz und sein Handeln
Es sind in Fragestellungen formulierte Spekulationen, die in München dazu von langjährigen deutschen Sicherheitspolitikern zu hören sind. Eine Frage lautet, ob sich Scholz möglicherweise sorge, dass die Ukraine noch vor der Wahl in den USA aufgeben müsse und sich Deutschland daher besser zurückhalte, quasi um sein Pulver trocken zu halten. Eine zweite, ob ihn umtreibe, dass Deutschland nach den Präsidentschaftswahlen die Rolle der USA unter den westlichen Demokratien übernehmen müsse, weil Donald Trump Amerika in die Isolation führe.
Dann gibt es noch eine dritte Frage: Hat Putin gegenüber Scholz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 rote Linien gezogen und mit Angriffen auf Deutschland gedroht, etwa mit Raketen aus Kaliningrad? Die Reichweite dafür hätten die dort stationierten Flugkörper. War die kurz nach Putins Grossangriff erfolgte Bestellung des amerikanischen Kampfflugzeugs F-35 als Träger von US-Atomwaffen sowie des israelischen Luftverteidigungssystems Arrow 3 die unmittelbare Reaktion des deutschen Kanzlers auf diese Drohung?
Scholz wird immer wieder zum Vorwurf gemacht, er kommuniziere seine Politik nicht oder nicht genug. Bei den Taurus-Marschflugkörpern ist das zum Beispiel der Fall. Der Regierungschef wich der Frage danach auch in München wieder aus. Wenn es eine rote Linie Putins geben sollte, dann liegt sie vielleicht hier. Andererseits scheint sich in der deutschen Sicherheitspolitik etwas zu verschieben. Die Bundesrepublik übernimmt militärische Führung in Europa, und zwar nicht, weil es andere erwarten, sondern weil sie sich in Anbetracht der Weltlage aus eigenem Interesse dazu gezwungen sehen dürfte.
Deutschland grast die halbe Welt nach Munition ab
Das zeigt sich etwa bei der Unterstützung der Ukraine mit Munition. Deutschland betätigt sich inzwischen als Ankäufer in der halben Welt. Deutsche Gesandte grasen die Märkte und Lager im Ausland ab, um Artilleriegranaten, Pulver und Sprengstoff ausfindig zu machen. Die von Scholz am Freitag beim Besuch Selenskis angekündigten 120 000 Geschosse im Ostblock-Kaliber 122 Millimeter hat die Bundesregierung in einem osteuropäischen Land in Auftrag gegeben und liefert das Pulver gleich mit. Die Granaten kann die Ukraine mit ihren Artilleriegeschützen aus Sowjetzeiten verschiessen. Ähnlich ist es bei Haubitzen und anderen Waffen: Deutschland, das betonten Berliner Regierungspolitiker in München, helfe, so gut es könne.
Man könnte noch ergänzen: Es hilft, ohne die eigene Verteidigungsfähigkeit endgültig zu riskieren. Damit ist Deutschland allerdings nicht allein. An der Sicherheitskonferenz wurde einmal mehr deutlich, dass sich viele westliche Staaten um ihre eigene Sicherheit sorgen. Die Befürchtung der Europäer, bei einer Ausweitung des Krieges über die Ukraine hinaus ohne die USA dazustehen, ist am Wochenende nicht kleiner geworden. Donald Trump war der Elefant im Raum im «Bayerischen Hof», zahlreiche Tagungsteilnehmer klagten über eine Doppelzüngigkeit der von ihm kontrollierten Republikaner.
Denn während Senatoren und Kongressmitglieder der Partei die europäischen Kollegen in München zu beschwichtigen versuchten, waren namhafte republikanische Vertreter wie Lindsey Graham, Senator, Aussenpolitikexperte und langjähriger fester Gast der Sicherheitskonferenz, gar nicht in die bayrische Landeshauptstadt gekommen. Graham zog es vor, zur gleichen Zeit an die mexikanische Grenze zu fahren, da er Amerika, wie er dem «Spiegel» sagte, an einem «breaking point» angelangt sieht. Niemand wolle doch, dass die Menschen in Amerika die Welt aufgäben, weil ihr eigener Hinterhof im Chaos sei, sagte er.