Marion Paradas erwartet, dass die Schweizer Politik eine Einigung mit der EU verteidigt. Zudem sagt sie, warum französische Patienten in hiesigen Spitälern behandelt werden sollen.
Frau Paradas, was hat Sie am meisten überrascht, als Sie 2023 nach Bern gekommen sind?
Es war faszinierend, das politische System der Schweiz kennenzulernen, von dem ich vorher keine genaue Vorstellung hatte. Mir ist klargeworden, wie wichtig das Regierungssystem und die direkte Demokratie für die Stabilität des Landes sind. Die Institutionen sind kohärent. In die Schweiz gekommen bin ich aber zuvor schon oft. Ich habe hier Familie und mochte den Lac Léman, den Jura oder das Berner Oberland schon immer.
Die Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich sind eng und gut. Aber sind sie auch ausgewogen?
Ja, gerade auf wirtschaftlicher Ebene. Die Schweiz ist in Frankreich einer der wichtigsten Investoren und umgekehrt. Die Bevölkerungen sind eng verbunden: Die Schweiz ist das ausländische Land, in dem am meisten Franzosen leben. Umgekehrt gilt dasselbe. All das schafft sehr stabile Beziehungen. Die Schweiz ist für französische Grenzgänger allerdings sehr attraktiv. Auch wenn diese in Frankreich eine hohe Kaufkraft haben, schafft das auf französischer Seite ebenfalls ein Ungleichgewicht.
Sie kennen vor allem die Westschweiz, die nach Frankreich orientiert ist. Haben Sie den Eindruck, dass die Deutschschweizer Frankreich gut kennen – und umgekehrt?
Die Deutschschweizer kennen Frankreich besser als die Franzosen die Deutschschweiz. Viele der grossen Investoren in Frankreich kommen aus Kantonen wie Zürich, Basel oder Luzern. Frankreich ist auch als Ferienland sehr beliebt. Wir versuchen, in der Deutschschweiz präsenter zu sein. Wir können uns nicht nur für jenen Teil des Landes interessieren, der uns näher liegt.
Für die Beziehungen zwischen den zwei Ländern ist es wichtig, dass die Schweiz und die EU ihr Verhältnis klären. Erwarten Sie bei den Verhandlungen über ein neues Vertragspaket eine baldige Einigung?
Ja, wir sind auf der Zielgeraden. Präsident Emmanuel Macron hat schon Zuversicht verströmt, als er letztes Jahr auf Staatsbesuch war. Die Schweiz, die in der Wirtschaft oder der Wissenschaft stark ist, ist ein Teil seiner paneuropäischen Vision. Das geplante Vertragspaket mit der EU stellt die Beziehungen auf eine stabile Basis.
Der Widerstand in der Schweiz ist schon jetzt gross. Wie nehmen Sie die Debatte wahr, gerade zur Zuwanderung?
Wir wissen, dass die Zuwanderung für die Schweiz ein heikles Thema ist. Die Frage einer Schutzklausel bei der Personenfreizügigkeit gehört zu den letzten offenen Diskussionspunkten. Ich bin zuversichtlich, dass die Unterhändler eine Lösung finden. Wenn das EU-Vertragspaket vorliegt, ist es an den politischen Kräften in der Schweiz, dieses zu erklären und zu verteidigen. Wir wünschen uns von ganzem Herzen, dass das Vertragspaket akzeptiert wird. Ist dies nicht der Fall, wäre das für beide Seiten eine grosse Enttäuschung.
In grenznahen französischen Regionen ist von medizinischen Wüsten die Rede, weil so viele Fachkräfte in der Schweiz arbeiten. Müsste eine Schutzklausel auch im Interesse Frankreichs sein?
Für Frankreich ist vor allem ein Problem, dass so viel Pflegepersonal in den Schweizer Gesundheitseinrichtungen arbeitet. Die Schweiz ist mit ihren hohen Löhnen sehr attraktiv. Sie ist auf die qualifizierten Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Es darf aber nicht so weit kommen, dass in den Spitälern der Haute-Savoie oder im Süden des Elsass ein Mangel an Arbeitskräften herrscht. Wir suchen mit der Schweiz Lösungen, zum Beispiel, indem sich Kantone an den Ausbildungskosten beteiligen. Basel-Stadt verhandelt zudem mit der Gesundheitsbehörde der südlichen Region Grand Est über ein Abkommen für medizinische Notfälle.
Französische Patienten sollen also einfacher in der Schweiz behandelt werden können?
Ja, das ist die Idee. Viel französisches Gesundheitspersonal arbeitet in Schweizer Spitälern. Im Gegenzug können diese Patienten aus Frankreich in gewissen Fällen behandeln. Ein ähnliches Abkommen besteht bereits zwischen Genf und der Region Auvergne-Rhône-Alpes.
Die Migration ist auch in Frankreich ein grosses Thema. Wie unterscheidet sich die Debatte von jener in der Schweiz?
In Frankreich dreht sich die Debatte nicht um die Personenfreizügigkeit in der EU, sondern um die illegale Migration von ausserhalb Europas. Die illegale Migration setzt die öffentlichen Dienstleistungen wie die Gesundheitsversorgung unter Druck. Die Debatte vermischt sich zudem mit der Sicherheitsdiskussion. Bei diesem Thema gerät bisweilen viel durcheinander.
Würde Frankreich anders über die Einwanderung von Fachkräften debattieren als die Schweiz – wo diese ebenfalls ein Thema ist?
Das ist schwierig zu sagen. Aber weder in der Schweiz noch in Frankreich ist es einfach, Familien zu finden, die keine Wurzeln im Ausland haben. Ich bin selbst ein gutes Beispiel: Mein Grossvater ist als Kind mit seiner Familie in den 1920er Jahren aus Katalonien in den Süden Frankreichs eingewandert. Historisch ist es eine Stärke Europas, Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft aufzunehmen, auszubilden und in die Gesellschaft zu integrieren.
Frankreichs Regierung will das Einwanderungsgesetz erneut verschärfen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie bis Ende des Jahres gestürzt wird. Was ist in Paris los?
Das Zusammenspiel der Institutionen – Präsident, Premierminister, Parlament – hat in der Fünften Republik bis anhin immer Mehrheiten in der Nationalversammlung hervorgebracht. Nun aber sind wir in einer bisher unbekannten Situation, in der niemand eine Mehrheit hat. Und die Regierung muss ein Budget durch das Parlament bringen, das die Staatsschulden reduziert. Das ist eine der wichtigsten Debatten des Jahres.
Man könnte diese Situation entschärfen, indem man Koalitionen bildet – doch das gehört nicht zu Frankreichs politischer Tradition. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass sich etwas verändert?
Es gibt Initiativen für institutionellen Wandel, etwa für mehr Proporz bei der Parlamentswahl. Solche Änderungen hätten auch Auswirkungen auf die politischen Prozesse. Die Debatte läuft. Aber für den Moment soll die Regierung ein Budget verabschieden. Das ist sehr wichtig für das Land, wirtschaftlich, aber auch für das Funktionieren des Staates.
Schwächt die instabile politische Situation Frankreichs nicht den Ruf des Landes – als globaler Player und Wirtschaftsmacht?
Im Moment sehen wir dafür keine Anzeichen. Frankreich war auch in den vergangenen Monaten ein aktives Mitglied der EU, der Nato, des Uno-Sicherheitsrats. Präsident Macron macht sich weiterhin für die Unterstützung der Ukraine stark oder engagiert sich in der Konfliktlösung im Nahen Osten. Und er wird auch weiterhin gehört. Die letzte Studie von EY belegt zudem, dass Frankreich wirtschaftlich attraktiv bleibt: Es ist ein grosser Markt mit sicheren Werten, wie etwa guten Ausbildungsbedingungen, auf die die politische Situation keinen direkten Einfluss hat.
Auch von Deutschland, Frankreichs wichtigstem Partner, sind derzeit keine Impulse für Europa zu erwarten. Ist die EU in der Lage, Herausforderungen wie den Ukraine-Krieg oder den bevorstehenden Regierungswechsel in den USA zu meistern?
Die deutsch-französische Beziehung bleibt in ihrer Tiefe entscheidend für Europa, aber auch das Verhältnis zu anderen Partnern ist sehr wichtig. Wir haben vor einigen Jahren einen Freundschaftsvertrag mit Italien abgeschlossen, mit Spanien gibt es ein ähnliches Abkommen. Das sogenannte Weimarer Dreieck – das wir zusammen mit Deutschland und Polen bilden – hat auf strategischer Ebene ebenfalls einen grossen Wert und hat mit dem Ukraine-Krieg an Bedeutung gewonnen. Diese starken Verbindungen zu verschiedenen Partnern in der EU müssen wir weiterentwickeln. Das ist im Interesse einer gemeinsamen europäischen Position.
Frankreich wird vorgehalten, nicht genug Unterstützung für die Ukraine zu leisten. Kritiker sagen, Präsident Macron rede viel, tue aber zu wenig.
Der Vorwurf ist nicht gerecht. Frankreich zahlt 20 Prozent des europäischen Budgets, und die EU-Institutionen sind nach den USA die zweitgrössten Geldgeber für die Ukraine. Frankreich leistet seinen Beitrag also auf der europäischen und auf der bilateralen Ebene. Die Kooperation wurde erst im Sommer erneuert, als der ukrainische Präsident Selenski anlässlich der Feierlichkeiten zur Landung der Alliierten in Frankreich war. Wir liefern Munition, unterstützen die Ukraine in der Cyberabwehr und im Grenzschutz oder bilden ukrainische Soldaten aus. Zudem arbeiten wir im Rüstungsbereich zusammen und haben dem Einsatz der weitreichenden Scalp-Raketen auf russischem Territorium zugestimmt, wie die USA und Grossbritannien. Die Unterstützung der Ukraine bleibt eine Priorität unserer Aussenpolitik.
Ein Argument, warum Frankreich nicht mehr Waffen liefert, war stets, dass man nicht mehr weggeben könne. Hat Frankreich denn seine Investitionen in die Rüstungsindustrie erhöht?
Ja, das geht Hand in Hand mit der Initiative der Reindustrialisierung, die die Regierung nach der Covid-Pandemie lanciert hat. Frankreich ist der zweitgrösste Waffenexporteur der Welt. Trotz Spardruck beläuft sich das Militärbudget im Jahr 2024 auf 47,2 Milliarden Euro, was 2 Prozent des BIP entspricht. Das sind 8 Milliarden mehr als vor dem Krieg in der Ukraine.
Das Schweizer Parlament tut sich schwer, eine Lösung für die Wiederausfuhr von Waffen durch befreundete Staaten zu finden. Wie blicken Sie auf die Neutralitätsdebatte?
Die Neutralität ist wichtig und macht die Identität der Schweiz aus. Niemand hinterfragt das. Man kann nicht sagen, dass die Schweiz nichts für die Ukraine tut – im Gegenteil. Sie hat die Aggression Russlands klar verurteilt, trägt die EU-Sanktionen weitgehend mit und hat Flüchtlinge aufgenommen. Dazu kommen die diplomatischen Initiativen, allen voran die Konferenz auf dem Bürgenstock. Das zeigt: Man kann ein neutrales Land sein und sich dennoch engagieren. Die Frage der Wiederausfuhr von Kriegsmaterial muss die Schweiz selbst beantworten. Natürlich würden wir eine Erlaubnis, der Ukraine Waffen weiterzugeben, aber begrüssen.
Sie wollten den Posten in Bern unbedingt. Warum?
Ich bin ein Fan der Schweiz. Obwohl ich im Süden Frankreichs aufgewachsen bin, hat mich das Land immer angezogen. Die Ruhe und die Schönheit der Landschaft haben eine beruhigende Wirkung. Und es gibt immer wieder etwas zum Staunen.
Haben Sie sich für Ihre Zeit in der Schweiz ein Ziel gesetzt?
Dass ich nie wieder gehen muss. (Lacht.) Ich möchte möglichst viele Kantone besuchen. In der Westschweiz wurde ich schon in einigen empfangen, als Nächstes stehen Baselland, St. Gallen und das Tessin auf dem Programm. Die Innerschweiz und Graubünden will ich auch unbedingt entdecken. Es interessiert mich sehr, zu erfahren, wie diese Kantone Frankreich sehen. Aus ihrer Warte liegt es vielleicht etwas weiter weg, bleibt aber doch ein direkter Nachbar.