Gewalt gegen Frauen ist in der Türkei weit verbreitet. Einer Studentin in Istanbul droht nun wegen einer provokanten Protestaktion eine Haftstrafe.
Der Istanbuler Stadtteil Kadiköy auf der asiatischen Seite des Bosporus ist eine säkulare Hochburg der Metropole. Das zeigt sich in den Parks an der Wasserfront, in denen viele Menschen am Feierabend öffentlich Bier trinken, aber auch in Fragen der Kleidung. Kurze Röcke und bauchfreie T-Shirts erregen hier keine Aufmerksamkeit. Kopftücher sieht man dagegen nur vereinzelt.
Protestaktion im Bikini
Aber selbst im liberalen Kadiköy ist Melisa Aydinalp eine auffällige Erscheinung. Die 23-jährige Frau, die neben ihrem Studium als Model tätig ist, hat vor einigen Monaten damit begonnen, an bestimmten Tagen nur im Bikini bekleidet über die grösste Einkaufsstrasse des Stadtteils zu spazieren. Aufnahmen davon teilt sie in den sozialen Netzwerken.
Damit wolle sie ein Zeichen gegen die überkommenen Erwartungen an das Erscheinungsbild einer Frau setzen, erklärte Aydinalp in einem Interview im Oktober. Was eine Frau trage und wie sie aussehe, gehe nur sie allein etwas an.
Das Thema beschäftigt Aydinalp seit ihrer Schulzeit. Als Auslöser nennt die junge Frau einen Übergriff, der stattgefunden habe, als sie mit fünfzehn Jahren in einem Minirock zur Schule gegangen sei. Ein Lehrer habe sie zuerst beschimpft und dann versucht, ihr den Rock mit Gewalt auszuziehen. Wenn sie sich so in der Öffentlichkeit präsentiere, könne sie ja auch noch mehr von sich zeigen. Mitschüler hätten die Szene beobachtet und dem Lehrer applaudiert. Seither wisse sie, dass sie gegen diese Doppelmoral kämpfen müsse.
«Störung der öffentlichen Ordnung»
Mit ihrer jüngsten Aktion hat sich Aydinalp nun aber strafrechtliche Probleme eingehandelt. Auf einem Bikini-Spaziergang im Dezember hatte sie ein Schild mit der Aufschrift «Freiheit für Brustwarzen» getragen. Die Staatsanwaltschaft erhob deshalb Klage wegen «Störung der öffentlichen Ordnung» und «Durchführung eines unbewilligten Protests». Den Vorwurf der «unziemlichen Handlungen» mussten die Ankläger fallenlassen, da Aydinalp keine intimen Körperteile entblösst hatte.
Dennoch drohen ihr bis zu zwölf Monate Haft. Das Land darf sie vorerst nicht mehr verlassen. Wenige Stunden vor ihrer Einvernahme durch die Polizei hatte ein berühmter Fernsehkommentator ihre Protestaktion kritisiert. Davor hatte sie bereits auf den sozialen Netzwerken einige Aufmerksamkeit erregt.
Weitverbreitete Gewalt gegen Frauen
Natürlich ist die Forderung nach dem Recht auf die öffentliche Entblössung von Brüsten provokativ, nicht nur in einem Land mit den gesellschaftlichen Realitäten der Türkei. Zudem dürfte die Aktivistin nicht ganz bar jeden Eigennutzes handeln. Ihre Bekanntheit als Model ist nach dem jüngsten Skandal angestiegen.
Das ändert nichts daran, dass Aydinalp den Finger auf einen wunden Punkt legt. Ein Verstoss gegen gesellschaftliche Moralvorstellungen kann für Frauen in der Türkei schwerwiegende Folgen haben. Gewalt gegen Frauen ist hierzulande ein grosses, aber weitgehend totgeschwiegenes Problem. Aus Rücksicht auf die religiös-konservative Stammwählerschaft trat die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan 2021 sogar aus der Istanbul-Konvention aus, der wichtigsten Übereinkunft zum Schutz von Frauenrechten.
Besonders bei Gewalt, die in etwelcher Form sexuell konnotiert ist, wird den Opfern oft wegen angeblicher Lasterhaftigkeit eine Mitverantwortung an der Tat zugeschrieben. Aydinalps Erfahrung als Schülerin, aber auch die Reaktionen von Passanten machen das deutlich.
Auf einem ihrer Spaziergänge habe ihr eine Frau zugerufen, in diesem Aufzug geschehe es ihr recht, wenn ihr der Kopf abgeschlagen werde, erzählte Aydinalp in einem Interview. Ein Ehepaar wiederum, dessen eigene Tochter durch ein Gewaltdelikt ums Leben gekommen war, habe sie unter Tränen gebeten weiterzumachen.
Nachtklubtänzerin wird zur Kultfigur
Auch die Debatte um eine populäre Fernsehserie wirft dieser Tage ein Schlaglicht auf das Thema. Die Serie «Perlenkörner» erzielt seit der ersten Folge am 25. Januar jeden Donnerstag hohe Einschaltquoten. Darin verliebt sich ein ehemaliger Häftling in die Angestellte eines «pavyon». In diesen Nachtklubs kaufen sich Männer für einen Abend die Gesellschaft von Frauen, die für sie auch auf der Bühne tanzen.
Die im Kampf für Frauenrechte engagierte Sängerin Melek Mosso mahnte, dass angesichts der Ausbeutung und des Missbrauchs von «Pavyon»-Tänzerinnen Witze zum Thema unangebracht seien. Trotzdem mangelt es nicht an sexistischen Wortmeldungen. Ein Oppositionspolitiker fragte sich, ob die Frauen in echten Etablissements auch so attraktiv seien wie die in der Serie. Ein Boulevardblatt druckte das Bild einer beleibten älteren Tänzerin ab und schrieb höhnisch, so sehe die Figur Dilber vor ihrer Pensionierung aus.
Dem Kultstatus, den Dilber in kurzer Zeit errungen hat, tut das keinen Abbruch. Beim Onlinehändler Trendyol zählte das Kleid, das die Tänzerin bei ihrem Auftritt trug, zu den populärsten Produkten der letzten Woche. Und mehrere Tanzschulen im Land haben Kurse ins Programm aufgenommen, in denen die Teilnehmer lernen, so wie Dilber zu tanzen.