Er war ein Denker gegen selbsternannte und falsche Autoritäten und stellte Fragen, die sonst niemand stellte: Vor dreissig Jahren ist Karl Popper gestorben.
Vor dreissig Jahren, im Herbst 1994, starb der Philosoph Karl Popper zweiundneunzigjährig. Wenige Wochen vorher hatte er zwei schwedischen Forschern ein Interview gegeben, in dem es um die Wechselwirkung zwischen Bewusstsein, Gedanken und der elektrochemischen Tätigkeit der Nerven ging. Kein biografisches Geplauder, sondern komplexe Wissenschaft.
Im Februar zuvor hatte ich ihn in seinem Haus in Kenley bei London besucht. «Mein Gedächtnis», sagte er mir, sobald wir uns gesetzt hatten, «lässt mich oft im Stich, aber an Problemen arbeiten kann ich immer noch so wie früher.» Davon konnte ich mich sofort überzeugen. Meine vorbereiteten Fragen überging er einfach. Er war es, der die Fragen stellte. Und er war, obgleich fast taub, ein guter Zuhörer und fand in meinen Antworten sofort Fehler und Probleme, an denen man gemeinsam arbeiten konnte. Wir hatten drei Stunden lang eine intensive Diskussion. Drei Sternstunden, die mein Leben veränderten.
Ich kannte Poppers Philosophie, den kritischen Rationalismus, seit langem. Aber nun begann ich den Philosophen Popper selbst zu studieren, las alle seine Bücher, übersetzte unbekannte, zum Teil unveröffentlichte Texte. Ich versenkte mich in das riesige Material, das die Universität Klagenfurt in einer eigens für Popper eingerichteten Bibliothek aufbewahrt, gab sechs Bände seiner «Gesammelten Werke» heraus, schrieb vier Bücher und über hundert Artikel über seine Philosophie.
Unendlich viele Sätze
Das Interessanteste an Poppers Philosophie war für mich, dass fast alles Theoretische in seinen Büchern unmittelbar politisch-gesellschaftliche Konsequenzen hat. Darin liegt auch der Grund dafür, dass seine Bücher noch heute von Bedeutung sind. Man könnte es an seinen Gedanken zur Ethik oder zur Theorie des Wissens zeigen. An seinen Thesen zur Evolutionsbiologie. Aber es zeigt sich auch an seinen Überlegungen zu Politik und Moral.
In Poppers Buch «Logik der Forschung» von 1934 steht der unscheinbare Satz: «Aus jeder Theorie und aus jedem Satz folgen unendlich viele andere Sätze.» Der Beweis ist einfach, hier aber zu lang. Er geht etwa so: Wenn die Ampel rot war, war sie logischerweise nicht grün, nicht gelb, nicht blau, nicht ausgeschaltet, nicht umgefallen, nicht gestohlen und so weiter.
Dieser Satz ist von grosser Bedeutung für die Wissenschaft, das politisch-gesellschaftliche Leben und sogar für die Moral. Für die Wissenschaft bedeutet er: Man kann eine Theorie nie als wahr erweisen, denn dazu müsste man sicherstellen, dass jede ihrer unendlich vielen Konsequenzen wahr ist. Wenn nur eine einzige davon falsch ist, ist die ganze Theorie falsch.
Man kann deshalb nur die «Falsifikationsmethode» anwenden, das heisst, alle als falsch erwiesenen Theorien fallenlassen und sehen, was übrig bleibt. Das bedeutet nicht, dass man die Wahrheitssuche aufgeben müsste. Nur wird man eben die Wahrheit nie beweisen können. Wir können die Wahrheit oft gefunden haben, aber wir können nie wissen, dass wir sie gefunden haben.
Der Tag des Volksgerichts
Der Satz gilt nicht nur für die Wissenschaftslogik. Er hat auch für das praktische Leben Konsequenzen. Wer in Religion, Politik, Wissenschaft, Kunst oder Alltagsfragen behauptet, die Wahrheit zu wissen, kennt die Logik nicht oder, noch schlimmer, setzt bewusst darauf, dass seine Zuhörer oder Follower in den Massenmedien nicht logisch denken. Dass wir die Wahrheit nicht wissen können, ist eine Tatsache.
Wir müssen also immer damit rechnen, dass wir Fehler machen und falsch handeln. Wir sind fehlbar, «fallibel», und diesen «Fallibilismus» hat Popper ein Leben lang vertreten. Fallibilist zu sein, kann das eigene Leben verändern. Und das ganzer Gesellschaften auch. Karl Popper zitiert in diesem Zusammenhang Voltaire: «Weil wir alle Fehler machen, müssen wir tolerant gegenüber den Fehlern anderer sein.» Schwer zu verstehen ist das nicht. Allgemein akzeptiert freilich auch nicht.
In seinem Hauptwerk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde», das Ende der 1950er Jahre erschien, hat Karl Popper eine Theorie der Demokratie entwickelt, die stark von der heute gängigen Vorstellung abweicht. «Unter Demokratie», schreibt er da, «verstehe ich nicht die Herrschaft des Volkes oder die Herrschaft der Mehrheit.» Das Entscheidende an der Demokratie, hält Popper fest, seien Institutionen wie die Gewaltenteilung und vor allem die Möglichkeit einer Abwahl der Regierung.
Die Abwahl der alten Regierung ist nicht dasselbe wie die Wahl einer neuen Regierung, und das ist kein Streit um Worte. Den praktischen Unterschied sieht man, wenn man an China, Russland und andere Autokratien denkt: Der Aufruf zum Abwahltag statt zum Wahltag würde einen Systemwechsel einläuten. Der Tag der Abwahl ist der «Tag des Volksgerichts über die Tätigkeit der Regierung», an dem diese zur Verantwortung gezogen wird.
Das Volk hat nicht immer recht
Auch wenn Poppers Werk geschätzt und in politischen Sonntagsreden oft zitiert wird: In der Öffentlichkeit hat sich eine andere Auffassung durchgesetzt. Der Wahltag wird als Tag der Machtübernahme gesehen. Man könnte fast vom Tag der Machtergreifung sprechen, wenn man hört, was Donald Trump nach seiner Wiederwahl vorhat. Oder wenn man sieht, wie weltweit das angegriffen wird, was Popper den Kern der Demokratie nennt: die Zähmung der Staatsgewalt, das Rechtssystem, die Presse, der Minderheitenschutz und der Pluralismus der Gesellschaft.
Es sei ein reiner Aberglaube, mahnte Popper, dass das Volk oder die Mehrheit nicht unrecht haben und nicht unrecht tun könne. Das ist der Kern der «offenen Gesellschaft». Der von Popper geprägte Begriff steht für das, was früher unscharf «westlich» genannt wurde: Gesellschaften, die offen sind für Kritik und Aufklärung. Sie stehen im Gegensatz zu den geschlossenen Gesellschaften der Autokraten, die ihre Bürger mit allen Mitteln gegen Kritik abschirmen, weil sie wissen, dass deren Eindringen für ihr System schlimmer wäre als ein schleichendes Gift oder ferngesteuerte Präzisionsraketen.
Die offenen Gesellschaften stehen weltweit unter Druck. Wenn der Untergang des «Westens» beschworen wird, ist der Untergang der offenen Gesellschaften gemeint. Vielleicht steht er bevor, aber nicht als Folge irgendwelcher historischer Gesetzmässigkeiten, sondern, würde Popper sagen, wenn wir nicht mehr entschieden für Aufklärung, Kritik und die Institutionen der Demokratie eintreten.
Kriege führen für den Frieden
Und wenn wir aufhören, Frieden und Freiheit zu verteidigen. Durch Putins Androhung eines Atomkriegs ist das wieder akut geworden: Auf die Frage, ob man sich eher für die Freiheit oder den Frieden entscheiden solle, hatte Popper eine klare Antwort: Immer für die Freiheit, sagte er, denn unter einem Diktator könnten wir weder des Friedens noch der Freiheit sicher sein.
Selbst unter einem vernünftigen Machthaber wie Michail Gorbatschow, dem letzten Präsidenten der Sowjetunion, hielt Popper Russland für unberechenbar. Weshalb, sagte er 1987 in einem Interview: «Dass die Russen den Frieden wollen, daran ist gar kein Zweifel. Das Problem ist, wie es mit ihren Regierungen steht. Selbst wenn Gorbatschow vernünftig ist, so wissen wir bei dieser Art von Regierungsverfassung nicht, ob nicht wieder ein Verrückter an die Regierung kommt.»
Das waren fast prophetische Worte. Aber Karl Popper beharrte immer darauf, dass wir uns den «Verrückten», die in dieser mit Problemen beladenen Welt Lust auf Eroberungskriege haben, nicht hilflos ausliefern dürfen. Wir müssten Kriege führen für den Frieden, sagte er 1992 in einem Interview. Und wir müssten für die Freiheit kämpfen: «auch wenn die Wahrscheinlichkeit des Erfolges verschwindend klein zu sein scheint».
Hans-Joachim Niemann ist Philosoph und Mitherausgeber der gesammelten Werke von Karl Popper.