Wenn der unbesetzte Teil der Ukraine unter Nato-Schutz gestellt würde, könnte Kiew laut Präsident Selenski zu einem Waffenstillstand bereit sein. Die Idee einer Nato-Mitgliedschaft nach «westdeutschem Modell» kursiert seit einiger Zeit, wirft aber viele Fragen auf.
Donald Trump hat im Wahlkampf behauptet, er werde als amerikanischer Präsident den Ukraine-Krieg innert 24 Stunden beenden. Der Beweis steht freilich noch aus. Eine gewisse Wirkung erzielt die bombastische Ankündigung aber bereits jetzt.
Angesichts der Rückkehr des unberechenbaren Dealmaker-in-Chief ins Weisse Haus – und des sich immer stärker zuungunsten der Ukraine verändernden Kräfteverhältnisses auf dem Feld – scheint sich Kiew veranlasst zu sehen, bei bisherigen roten Linien eine gewisse Flexibilität zu signalisieren.
Garantie gegen neue Angriffe
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski erklärte in einem Interview mit dem britischen Nachrichtensender Sky News am Freitag, dass die Rückerlangung der Kontrolle über das gesamte Territorium der Ukraine keine Vorbedingung für einen Waffenstillstand darstelle.
Die heisse Phase des Krieges könne beendet werden, wenn alle Gebiete, die sich weiterhin unter ukrainischer Kontrolle befänden, mit sofortiger Wirkung unter den Nato-Schutzschirm gestellt würden, sagte Selenski. Dies sei notwendig, um Putin davon abzuhalten, nach einer Phase der Rekonsolidierung erneut anzugreifen, um auch den Rest des Landes zu unterwerfen.
Gedankenspiele zum sogenannten westdeutschen Modell, wie die Aufnahme von Teilen der Ukraine in die Nato wegen Parallelen zum Beitritt der BRD während der deutschen Teilung verkürzt genannt wird, kursieren seit einiger Zeit.
Selenski nannte zudem weitere Bedingungen. Die Nato müsse für das gesamte Territorium der Ukraine eine Einladung zur Mitgliedschaft aussprechen, weil alles andere Kiews Anspruch auf die russisch besetzten Gebiete infrage stellte. Zurzeit hält Russland auf der Krim und im Osten des Landes etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums unter seiner Kontrolle.
Im Falle eines solchen Waffenstillstandes würde Kiew laut Selenski versuchen, die Kontrolle über diese Gebiete mit diplomatischen Mitteln zurückzuerlangen. Die Ukraine habe bisher nie einen solchen Vorschlag erwogen, weil er nie unterbreitet worden sei, sagte der ukrainische Präsident. Bisher hatte Kiew in Fragen der territorialen Integrität nie Kompromissbereitschaft erkennen lassen.
«Friede statt territoriale Integrität»
Selenski hat bei seinen Äusserungen zweifellos den bevorstehenden Amtsantritt Trumps im Blick. Der künftige amerikanische Präsident lässt keinen Zweifel daran, dass er den Krieg so schnell wie möglich beendet sehen möchte. Direkte Aussagen zur Zukunft der besetzten Gebiete hat Trump dabei keine gemacht. Aus seinem engsten Umfeld gab es aber durchaus Äusserungen, die darauf hindeuten, dass die Einstellung der Kampfhandlungen grössere Priorität habe als die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine.
Vergangene Woche hat Trump seinen früheren Sicherheitsberater Keith Kellogg zum Sondergesandten der künftigen Regierung für die Ukraine ernannt. Der ehemalige Generalleutnant war zuletzt für die konservative Denkfabrik America First Policy Institute tätig. In dieser Funktion legte er im Juni einen Plan vor, mit dem Kiew und Moskau an den Verhandlungstisch gezwungen werden sollten.
Die Ukraine werde demnach nur dann weiterhin amerikanische Waffen erhalten, wenn sie sich auf Gespräche mit Moskau einlasse. Das Druckmittel gegenüber dem Kreml wiederum wären im Falle einer russischen Gesprächsverweigerung stark erhöhte Waffenlieferungen an die Ukraine. Während der Verhandlungen müssten alle Kampfhandlungen eingestellt werden. Weiter heisst es, dass die Ukraine nicht auf die besetzten Gebiete verzichten müsse. Dieses Ziel sei aber mit diplomatischen Mitteln zu verfolgen.
Putin will die ganze Ukraine unterwerfen
Kelloggs Plan sieht allerdings explizit auch eine Sistierung der ukrainischen Bemühungen zum Nato-Beitritt vor, um Moskau für Gespräche zu gewinnen. Dass sich Russlands Präsident Wladimir Putin unter der Prämisse einer wie auch immer gearteten ukrainischen Nato-Mitgliedschaft zu Friedensverhandlungen bereit erklärt, darf ausgeschlossen werden, erst recht beim gegenwärtigen Kriegsverlauf.
Putin hat die angeblich aggressive Ausweitung des Nordatlantikpakts bis an die russische Grenze schliesslich immer als eine Rechtfertigung für seinen Überfall auf die Ukraine dargestellt. Ausserdem hat er nie Zweifel daran gelassen, dass er weitere Teile des Landes erobern und eine andere Regierung in Kiew installieren will.
Auch innerhalb der Nato gibt es reichlich Vorbehalte gegen Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Das weiss auch Selenski. Mit seiner Erklärung signalisiert der ukrainische Präsident Kompromissbereitschaft und schickt damit Blumen an den künftigen Herrn im Weissen Haus. Die Umsetzbarkeit des skizzierten Plans steht auf einem anderen Blatt geschrieben.







