Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers ist eine neue Biografie erschienen, die sich am Blick durchs Schlüsselloch ergötzt. Sie ist nur ein Beispiel eines verbreiteten Voyeurismus im literarischen Hinterzimmer.
Man hatte geglaubt, dass es fünfzig Jahre nach Thomas Manns Tod keine Geheimnisse mehr zu enthüllen gebe, weder was die Werke noch was das Leben des Schriftstellers betrifft. Nun belehrt eine neue Biografie das staunende Publikum eines Besseren. Der deutsche Literaturhistoriker Tilmann Lahme hat sie unter dem unverdächtigen Titel «Thomas Mann. Ein Leben» veröffentlicht.
Nicht einmal 500 Seiten dick ist das Buch, zuzüglich der Anhänge. Das ist bescheiden für eine Figur wie Thomas Mann. Aber das Buch hat es in sich. Das Wort «Sex» findet sich darin rund 480 Mal, von «Sexszene» bis «homosexuell». Die Buchstabenfolge «erot» bringt es immerhin auf 85 Verwendungen in «homoerotisch» bis «autoerotisch». Nur die Liebe übertrifft alles. Weit über fünfhundert Nennungen.
Unterschlagene Samenergüsse
Man könnte glauben, Thomas Mann sei ein schlimmer Pornograf gewesen. Zum Vergleich: Das Wort «Schriftsteller» bringt es auf 94 Verwendungen, die Buchstabenfolge «litera» bleibt mit 384 Wiederholungen weit hinter dem Sex und der Liebe zurück. War Thomas Mann vielleicht doch kein so grosser Schriftsteller?
O doch, aber Tilmann Lahme hatte in der Forschung zu Thomas Mann und in den Editionen von Tagebüchern und Briefen bedenkliche Lücken bemerkt. So fand er zum Beispiel heraus, dass in den auf rund 10 000 Seiten publizierten Tagebüchern sieben Mal das Wort «Pollution» – Thomas Manns Umschreibung eines Samenergusses – unterschlagen worden ist. Ebenso oft der Beischlaf, ob erfolgreich oder nur versucht, im ehelichen Bett.
Das dürfte nicht sein, da hat Tilmann Lahme recht. Thomas Mann hat die Tagebücher zur Veröffentlichung zwanzig Jahre nach seinem Tod freigegeben. Er wusste, was die Nachwelt erfahren würde. Er wird es so gewollt haben. Es gab darum keinen Grund, ihn vor welchen Blössen auch immer zu schützen. Dass die Germanisten und Herausgeber der Werke es dennoch taten und teilweise noch bis heute tun, indem sie einschlägige Briefe zu seiner Homosexualität nicht veröffentlichen, stellt ihnen ein schlechtes Zeugnis aus. Ihre Prüderie scheint jene ihres Idols zu übertreffen.
Unter dem Vorwand, solche Missstände aufzudecken, wozu er guten Grund hat, macht Tilmann Lahme allerdings noch etwas ganz anderes. Seine Biografie hört mit der Richtigstellung nicht auf; einmal damit angefangen, bekommt er gar nicht genug vom Blick durchs Schlüsselloch. Seine wahre Obsession sind nicht die Verschleierungen der Germanistik, sondern die Einzelheiten von Thomas Manns Sexualleben. Und damit auch der Dümmste merkt, dass es hier um Intimstes geht, winkt Lahme mit dem Zaunpfahl. Wie jedes Buch hat auch seines eine Einleitung und eine Schlussbetrachtung. Sie heissen hier, wie sonst: Vor- und Nachspiel.
Hyänen der Nachwelt
Was auch immer das Buch an wichtigen Beobachtungen enthält, so kann man es doch nur mit einem Wort etikettieren: Voyeurismus. Tilmann Lahme ist mit seiner nur notdürftig drapierten Leidenschaft nicht allein. Gerade jüngst machten sich Editoren über Joan Didions Gesprächsprotokolle her, welche die amerikanische Autorin von 46 Therapiesitzungen bei ihrem Psychiater angefertigt hatte. Die Gespräche fanden zwischen 1999 und 2002 statt und drehten sich hauptsächlich um ihre Adoptivtochter. Die Protokolle waren ganz offensichtlich für ihren Mann gedacht, den sie darin immer wieder anspricht.
Diese Dokumente schliessen keine Bildungslücken. Sie waren nicht für die Nachwelt bestimmt, und die Nachwelt braucht sie auch nicht zu kennen. Sie bedienen lediglich den Voyeurismus eines Publikums, das nur zu gerne ins Intimleben seiner Helden schaut. Joan Didions Vergehen besteht darin, die Protokolle vor ihrem Tod nicht vernichtet oder testamentarisch gesperrt zu haben.
Die Hyänen der Nachwelt sind unerbittlich. Sie geben erst Ruhe, wenn bis auf die letzte Pollution alles auf dem Tisch liegt.