Sie stehen im Sold der Regierung in Bagdad und attackieren trotzdem amerikanische Stützpunkte im Irak. Wer sind die Männer, welche die Amerikaner mit allen Mitteln vertreiben wollen?
Abu Jafar ist stolz auf seinen Bruder. «Er war ein guter Mann, ruhig und gelassen», sagt er, während er, umringt von seinen männlichen Verwandten, im Haus der Familie in der zentralirakischen Stadt Balad auf dem Boden sitzt. In einer Ecke des Zimmers steht ein kleiner Altar mit dem Bild des Toten. Abu Hussein al-Baladawi war nur 31 Jahre alt, als er vor zwei Wochen bei einem amerikanischen Luftangriff getötet wurde.
Die USA hatten Anfang Februar den isolierten Wüstenstützpunkt von Baladawis Einheit bombardiert. Dabei wurden neben ihm noch 15 weitere Kämpfer getötet. «Er starb bei der Verteidigung seiner Heimat und seines Glaubens», sagt Abu Jafar über seinen Bruder, der bei den Hashd al-Shaabi, den Volksmobilisierungseinheiten, diente. Er habe getan, was er als guter Schiit und Iraker eben tun müsse.
«Die Amerikaner beuten unser Land aus»
Balad ist ein ärmlicher Ort. In der Stadt am Tigris zwischen Bagdad und Samara gibt es kaum geteerte Strassen, und zwischen den einfachen Häusern liegt der Müll. Die Männer fühlen sich vernachlässigt und machen dafür Amerika verantwortlich. «Die Amerikaner beuten unser Land aus», sagt Abu Jafar. «Sie reissen sich die Ressourcen unter den Nagel und bestimmen alles im Irak. Wir wollen nur unsere Unabhängigkeit wiedererlangen.»
Die Amerikaner hatten den irakischen Diktator Saddam Hussein 2003 gestürzt und damit das Land in einen jahrelangen blutigen Bürgerkrieg geworfen. Ende 2011 zog Barack Obama die letzten amerikanischen Truppen aus dem Irak ab. Doch als der Islamische Staat (IS) im Sommer 2014 über das Zweistromland herfiel und bis an den Rand von Bagdad vordrang, rief die belagerte Regierung dort Washington zu Hilfe.
Gemeinsam mit den kurdischen Peshmerga-Milizen, den irakischen Truppen und rasch ausgehobenen schiitischen Freiwilligenverbänden gelang es der internationalen Anti-IS-Koalition Ende 2017, die Terrormiliz zu besiegen. Doch noch immer sind rund 2000 Amerikaner im Land stationiert. Offiziell sind die Truppen für den Kampf gegen die verbleibenden IS-Zellen im Irak. Washington geht es aber auch darum, Einfluss im Land zu bewahren und ein Erstarken Irans zu verhindern.
Inzwischen wollen die meisten irakischen Kämpfer, dass ihre einstigen Bündnispartner verschwinden. «Die Amerikaner haben heimlich den IS unterstützt, ich habe es selbst gesehen», behauptet Abu Jafar, der nach 2014 selbst gegen die Jihadisten gekämpft hat. Er wünscht sich, dass der Abzug der Amerikaner durch Verhandlungen zustande kommt. Gewalt hält er nicht für den richtigen Weg. Auch die Einheit seines Bruders habe nicht gegen die Amerikaner gekämpft, versichert er.
Eine Waffe Teherans im Kampf gegen Amerika
Andere setzen hingegen auf Gewalt. Seit dem Hamas-Massaker in Israel am 7. Oktober haben die Angriffe auf amerikanische Stützpunkte im Irak und in Syrien stark zugenommen. Washington antwortet mit Luftangriffen auf Stellungen proiranischer Gruppen. So liess Joe Biden Anfang Februar zur Vergeltung für einen tödlichen Drohnenangriff auf einen amerikanischen Stützpunkt in Jordanien Dutzende Ziele im Irak und in Syrien bombardieren. Dabei kam auch Baladawi ums Leben.
Die antiamerikanischen Kämpfer schreckt das nicht ab, denn sie haben mit Iran einen mächtigen Freund. Das Teheraner Regime unterstützt seit Jahren radikale schiitische Milizen im Irak. Unter anderem auch Harakat al-Nujaba, die für den Grossteil der jüngsten Angriffe verantwortlich gewesen sein soll. Sie wurde einst von den iranischen Revolutionswächtern mit aufgebaut und gilt als Waffe Teherans im Schattenkrieg gegen Amerika.
Ihr Sprecher, Mehdi al-Kaabi, trägt Anzug und braune Leder-Slipper. Harakat al-Nujaba werde die Amerikaner so lange bekämpfen, bis sie den Irak verliessen, sagt er bei einem Treffen in Bagdad: «Sie sind Imperialisten. Zudem verbreiten sie Homosexualität im Irak.» Kaabi sieht sich als Teil der sogenannten «Achse des Widerstands», die von Teheran über Libanon bis Jemen reicht. Die palästinensische Hamas zählt er ebenfalls dazu. «Wir werden so lange weitermachen, bis der Krieg in Gaza aufhört», sagt er.
Die Kämpfer bekommen Lohn vom Staat
Für die Regierung des Iraks ist das ein Problem. Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani will am liebsten mit den Amerikanern über einen geordneten Rückzug verhandeln. Doch die Angriffe der bewaffneten Gruppen erschweren das. Denn viele von ihnen gehören gleichzeitig zu den Sicherheitskräften. Als Mitglieder der Volksmobilisierungseinheiten (PMF) bekommen manche ihrer Kämpfer sogar Lohn vom Staat.
Die mehrheitlich schiitischen PMF waren 2014 für den Kampf gegen den IS geschaffen worden. Inzwischen umfassen sie sowohl regierungstreue Verbände als auch Abteilungen dissidenter Gruppen, wie Harakat al-Nujaba. Sie wirken deshalb wie ein Zwitterwesen: Einerseits sind ihre Kämpfer stolz darauf, dem irakischen Staat zu dienen. Andererseits stehen sie oftmals Iran näher als der Regierung in Bagdad.
Zudem haben viele PMF-Verbände ein Eigenleben entwickelt. Ihre Vertreter sitzen inzwischen im Parlament und bestimmen die Politik in Bagdad mit. Wie Hussein Munis, Abgeordneter der proiranischen Miliz Kataib Hizbullah. Im Gegensatz zu Harakat al-Nujaba hat seine Truppe kürzlich eine Feuerpause im Kampf gegen Amerika verkündet. Statt den Kämpfer gibt Munis jetzt den staatstragenden Politiker.
Die Milizen sind nicht nur Befehlsempfänger Teherans
An einer Konferenz in Bagdad doziert er über Währungsschwankungen und den Preis von Fruchtsaft. Seine Argumente für einen Abzug der Amerikaner sind ökonomischer Natur. «Die Besetzung schadet vor allem unserer Wirtschaft», sagt Munis und behauptet, die USA hätten versucht, sich durch politischen Druck Aufträge im Energiesektor zu sichern. «Wir müssen deshalb alle daran arbeiten, die Besetzer zu vertreiben.»
Das kommt nicht nur gut an. Der Irak habe doch ganz andere Probleme, antwortet ihm ein älterer Mann aus dem Publikum. «Warum bitte sollen wir alle daran arbeiten müssen? Wir wollen doch Sicherheit und Stabilität.» Munis nickt. Er weiss offenbar, dass viele Iraker müde sind. Nach Jahrzehnten des Blutvergiessens und des Chaos haben die meisten Iraker wenig Lust auf einen neuen Krieg.
Dabei kommt ihnen entgegen, dass der mächtige Nachbar Iran ebenfalls wenig Appetit auf eine offene Konfrontation mit den Amerikanern hat. So sollen Teherans Emissäre vor kurzem nach Bagdad gereist sein, um ihre Verbündeten zu mehr Zurückhaltung aufzufordern. Doch Gruppen wie Harakat al-Nujaba sehen sich keineswegs nur als Befehlsempfänger: «Wir sind Iraker und fällen unsere eigenen Entscheidungen», sagt der Sprecher der Truppe, Mehdi al-Kaabi.
Die Kampfverbände werden kaum verschwinden
Verschwinden werden die heterogenen Kampfverbände unter dem Dach der PMF wohl auch dann nicht, sollten die Amerikaner tatsächlich abziehen. Denn sie sind längst ein fester Bestandteil der irakischen Gesellschaft geworden. Inzwischen dienen Zehntausende junger Männer in ihren Brigaden. Im Irak, wo eine hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht, ist das für viele eine lukrative, wenn nicht gar die einzige Beschäftigung.
«Wir sorgen hier für Sicherheit», sagt Abubakar al-Hamadi, ein früherer Soldat, der eine in der sunnitischen Westprovinz Anbar stationierte PMF-Einheit befehligt. Ihre Basis liegt in der Nähe einer aufgegebenen Bahnstation. Seine Männer patrouillieren auf verbeulten Pick-ups in den umliegenden Orten und bemannen Checkpoints. Das Land ist flach und trist, Regen prasselt auf die Baracken nieder.
In den sunnitischen Gebieten kommt die Präsenz schiitischer Kämpfer nicht besonders gut an. Viele sehen sie als Besetzungstruppen. Man vertraue ihnen nicht wirklich, sagt ein sunnitischer Lokalpolitiker aus Anbar. «Uns wäre es daher lieber, die Amerikaner würden bleiben.» Hamadi hingegen betont, das Verhältnis zur Bevölkerung sei gut. «Wir unterstützen die Leute. Während Corona haben wir zum Beispiel Hilfsgüter verteilt.»
«Wir können uns selbst verteidigen»
Hamadis Männer kämpfen seit Jahren zusammen, sie haben unzählige Schlachten gegen den IS geschlagen und viele Kameraden verloren. Eine Rückkehr ins Zivilleben können sich die meisten nicht vorstellen. «Wir sind wie Brüder, der Kommandant ist wie ein Vater für uns», sagt Malik Jasim, der vor dem Krieg gegen den IS in Bagdad auf dem Bau gearbeitet hat. Als Teil der PMF fühlen sie sich als Soldaten und als stolze Verteidiger der Heimat.
Auch Hamadi und seine Männer gehören einer schiitischen Gruppe an, die als Iran-treu gilt. Die Badr-Organisation existiert bereits seit den achtziger Jahren. Im Gegensatz zu Harakat al-Nujaba oder Kataib Hizbullah beteiligt sie sich derzeit nicht am Kampf gegen die Amerikaner. «Wir folgen den Befehlen der Regierung in Bagdad», sagt Hamadi, während seine Männer Essen auftragen. Trotzdem will auch er, dass die Amerikaner gehen. «Wir brauchen sie nicht mehr. Wir können unser Land selbst verteidigen.»