Es gibt heute viele Gründe, Kinder zu haben. Manche Paare machen ein Projekt für die Allgemeinheit daraus. Sie entscheiden sich für Nachwuchs, um eigene Werte durchzusetzen.
Gelegentlich stellen mir jüngere Freunde oder Kollegen die grosse Frage, was die wichtigste positive Veränderung sei, die sich seit der Zeit meiner Geburt in den späten vierziger Jahren für die menschliche Existenz und ihre langfristige Zukunft vollzogen habe. Altersweise und politisch korrekt nenne ich dann stets den Prozess, mit dem «nicht heteronormative Lebensformen» auf allen Erdteilen zu einem Teil der alltäglichen Wirklichkeit geworden sind. Als gutgemeintes Schlusswort zitiere ich noch gerne eine Bemerkung des Philosophen Richard Rorty, wonach Kämpfe um Gleichheit ein wirklich gutes Ende erst erreichen, wenn ihre Resultate nicht mehr der Rede wert sind.
Eingesetzt hatte jene Bewegung hin zu einer neuen gesellschaftlichen Pluralität im Juni 1969, als sich homo- und transsexuelle Stammgäste des New Yorker «Stonewall Inn» den damals gegen sie gerichteten Polizeirazzien widersetzten und so eine nicht nur nationale Dynamik des offenen Protests auslösten.
Etwa zehn Jahre zuvor war eine andere, auch an sexuelles Verhalten gebundene Welle existenzieller Umbrüche mit weniger politischen, aber wahrscheinlich nachhaltigeren Wirkungen in Gang gekommen. Pharmakologische Synthesen, die zuerst in Mexiko gelangen, hatten die legendäre Pille hervorgebracht, durch deren Einnahme Millionen von Frauen ab 1960 zum ersten Mal zuverlässig unerwünschte Schwangerschaften ausschliessen konnten.
Distanz zwischen Sex und Fortpflanzung
Wie intensiv beglückend die plötzlich eingetretene Erlösung der Erotik vom permanenten Schwangerschaftsrisiko wirkte, lässt sich im historischen Rückblick kaum nachvollziehen. Doch schon früh wies der Chemiker Carl Djerassi, der sich gerne als «Vater der Pille» feiern liess, auf psychisch und sozial weiterreichende Konsequenzen als Potenzial und Versprechen der Erfindung hin, ohne zunächst viel Resonanz zu finden.
Mit der Pille war eine Distanz zwischen Sex und Fortpflanzung entstanden, die neben der Entlastung erotischen Erlebens auch dem Leben mit Kindern einen neuen Stellenwert gab. Elternschaft war nun deutlicher als je zuvor zu einem Gegenstand individueller Entscheidung geworden.
Vielfache Statistiken veranschaulichen die verschiedenen Dimensionen jener geschichtlichen Schwelle. Dass die durchschnittliche Fruchtbarkeitsrate in den vergangenen sechzig Jahren weltweit von fünf auf etwas über zwei Kinder pro Frau zurückgegangen ist, hat die ursprünglich von optimierter Geburtenkontrolle geweckten Erwartungen wohl bei weitem überboten. Viel langsamer vollzog sich die Einsicht, dass damit die seit der Aufklärung vielfach erneuerten Hochrechnungen von Problemen wie der Überbevölkerung des Planeten, Versorgungsengpässen oder wachsenden Konflikten um verbleibenden Raum ihren prognostischen Wert verloren hatten. Geradezu spärlich sind schliesslich Umfragen und Diskussionen geblieben, die sich nicht auf die Reduktion des Schwangerschaftsrisikos beziehen, sondern auf den während desselben Zeitraums eingetretenen Wandel gegenüber dem Leben mit Kindern.
Noch um 1960 gaben in den Vereinigten Staaten und in Grossbritannien bloss fünf Prozent der jungen Erwachsenen an, in ihrem Leben nicht mit Kindern zu rechnen – Elternschaft war eine alternativlos selbstverständliche und oft autoritär durchgesetzte Existenzform. Heute dagegen erwähnt gerade noch ein Drittel derselben Altersgruppe eigene Kinder als Teil seiner Vorstellungen von wünschenswerter Existenz. Man kann also sagen, dass erst über die letzten Jahrzehnte der Kinderwunsch zum Motiv einer spezifischen Gruppe und mithin zu einer Tatsache im soziologischen Sinn geworden ist.
Motivationen der Kinderwunsch-Gruppe
Die Zahl der amerikanischen Haushalte, in denen Kinder und Jugendliche leben, liegt derzeit bei vierzig Prozent, das heisst weit über der Zahl der sich heute Kinder wünschenden, aber auch klar unter der Zahl der traditionell Kinder voraussetzenden Zeitgenossen. Dies scheint eine Übergangssituation zu dokumentieren, in der zwischen verschiedenen Generationen Probleme und Tabuzonen der Kommunikation auftreten. Babyboomer-Eltern wissen nicht recht, wie sie ohne Peinlichkeit und Tabubrüche gegenüber ihren eigenen Kindern, für die ein Leben mit Kindern nicht mehr selbstverständlich ist, unerfüllte Träume von Enkelkindern ins Gespräch bringen können.
Umgekehrt zögern viele in der Zeit vor 2000 geborene Millennials, ihren Eltern zu gestehen, dass sie überhaupt nicht an eigene Kinder denken. Für das abstrakte Denken der philosophischen Anthropologie steht die Auseinandersetzung mit den Prämissen und Konsequenzen dieser Entwicklung noch an. Sie wird zu einem weiteren Kriterium der Unterscheidung zwischen Menschen und allen anderen Lebewesen führen. Denn allein unter Menschen trennt seit mehr als einem halben Jahrhundert eine kategoriale Distanz Sex von Fortpflanzung und Elternschaft.
Erst aufgrund des Abstands zwischen Sex und Elternschaft sind die Zeitgenossen mit Kinderwunsch zur neuen Minderheit mit einem besonderen Lebensstil und einem spezifischen Markt für Verfahren zur Erfüllung ihres Wunsches geworden. Heterosexuellen Paaren stehen komplizierte, zunehmend Erfolg garantierende und teure medizinische Techniken zur Verfügung. Dank diesen Techniken können sie Gesundheitsrisiken bei Schwangerschaften vermeiden und im weitesten Sinn organische Hindernisse der Fortpflanzung überwinden, die in der Vergangenheit allein die Adoption als Weg zur Verwirklichung des Kinderwunsches offenliessen.
Auch homosexuelle Partner haben nun die Möglichkeit, genetisch eigene Kinder zu bekommen und ihnen zumindest einen Teil ihrer physisch codierten Identitäten mitzugeben. Die rasante Kostenentwicklung dieses Markts zu bewältigen, bleibt eine vorerst ungelöste Aufgabe der immer noch «Krankenversicherungen» genannten staatlichen und privaten Institutionen.
Der konservative und euphorische Elterntyp
Kulturell gesehen öffnet sich in der Kinderwunsch-Gruppe ein weiter Horizont von Motivationen, das Leben mit Kindern und ihre Erziehung in besondere Formen der Existenz überzuführen. Elternschaft wird zu einer Aufgabe und einer Möglichkeit der Selbststilisierung. Da für zwei Kinder im Durchschnittsfall die Hälfte des verfügbaren Einkommens ihrer Eltern investiert werden muss, werden solche Entscheide in Zukunft gründliche Überlegungen nach sich ziehen.
Dabei lässt sich ein erster, konservativer Typ des Lebens mit Kindern ausmachen. Zu ihm gehört die in ihrer Zahl zurückgehende Gruppe von Eltern, die eine Existenz mit Kindern weiterhin als selbstverständlich ansieht – und aufgrund mangelnder Planung von den entstehenden Kosten leicht überwältigt wird. Ein gegenläufig konservativer, etwa in Japan durchaus konkreter Grund für Kinder fasst ihre Erziehung als Massnahme für eine gesicherte Versorgung im eigenen Alter auf. Daneben besteht wenigstens theologisch offiziell weiter das strenge Gebot der katholischen Tradition, dass Sex nur unter der Voraussetzung einer Offenheit für Schwangerschaften und Kinder als sündenfrei gilt.
Ein zweiter, intern weniger differenzierter Stiltyp stellt die Freude am Leben mit Kindern als Priorität in der Existenz ihrer Eltern zur Schau. Er kann Vorzüge für oder Übergänge zu bestimmten Berufen bedingen, die hohe Beträge von Freizeit und Flexibilität bereitstellen. In der amerikanischen Gesellschaft regt diese Einstellung häufig den dort gesetzlich fast problemlos zu realisierenden Beschluss an, die Ausbildung der Kinder mit «homeschooling» ganz oder zu grossen Teilen innerhalb der Familie zu gestalten.
Solch demonstrative Freude an Kindern geht meist in die Erwartung über, im Lauf ihres Heranwachsens gemeinsam die laufenden kulturellen Veränderungen zu vollziehen. Nicht selten überlasten entsprechend euphorische Eltern mit Angeboten lebenslanger Freundschaft die Unabhängigkeitsimpulse ihrer Nachkommen. Sie werden dabei zu unfreiwillig komischen Verkörperungen eines Glaubens an ewige Jugend.
Die Folgen dieses Spiels mit den Stilen
Am deutlichsten wohl tritt unter den Stiltypen des Kinderwunsches die Sehnsucht hervor, Erziehen als Projekt einer Umsetzung von persönlich hochgehaltenen Werten zu praktizieren. Institutionen wie die Montessori- oder Waldorfschulen kommen diesem Selbstbild entgegen. Von ihm überzeugte Eltern konzentrieren sich meist auf ein einziges Kind, dessen hochgerechnete Fortschritte in sozialen Kontexten sie aus einer zu ihrem Spitznamen gewordenen Helikopter-Höhe beobachten und zu fördern versuchen. Gegen alle Selbstzweifel immun, fassen sie ihr Projekt und sein unterstelltes Gelingen auch als Beitrag zur Herbeiführung einer besseren Welt auf, womit sie zu Amateur-Konkurrenten und zum Albtraum ausgebildeter Lehrer aufsteigen.
Als Begründer der aufklärerisch-ethischen Universalvision von Pädagogik und Vater eines nach Rousseau Jean-Jacques genannten, einzigen und tief unglücklichen Sohns war Johann Heinrich Pestalozzi der berühmte historische Vorgänger dieses Elterntyps, dessen Familienleben für unsere Zeitgenossen zu einer drastischen Warnung werden sollte. Pestalozzis Schriften über Grundsätze der Erziehung und sein Einsatz für die Rechte benachteiligter junger Menschen scheinen ihm keine Zeit zum Verständnis des eigenen Kinds gelassen zu haben.
Sobald wir auf Elternschaft und die Existenz mit Kindern als einen sich gegenwärtig herausbildenden Horizont von Stilentscheidungen aufmerksam werden, stellen sich ironische oder gar sarkastische Reaktionen ein. Natürlich ist es das gute Minderheitenrecht der neuen Eltern, in ihren verschiedenen Rollenvarianten individuelle Phantasien von besseren Formen der menschlichen Existenz auszuleben.
Ob Anlass besteht, ihre Kinder und langfristig gesehen auch ihre Gesellschaften vor den Folgen dieses Spiels mit Lebensstilarten zu schützen, könnte sich zu einer dringenden Frage entwickeln. Eine Zukunft in den Händen von Projektkindern, die sich nie von der Freundschaft ihrer Eltern befreit haben, könnte zu der dystopischen Vision werden, die niemand erwartet hat. Denn ein Umlenken primärer Instinkte und ein Ablegen selbstverständlicher Verhaltensmuster laufen beileibe nicht immer auf Gewinnsituationen hinaus.
Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Albert-Guérard-Professor für Literatur an der Stanford University und Distinguished Emeritus Professor an der Universität Bonn.