Bis zu 137 Milliarden Euro an EU-Mitteln für Polen liegen in Brüssel auf Eis. Mit dem Plan, die Gelder freizugeben, trifft die Kommission eine mindestens so politische wie juristische Entscheidung. Die innerpolnischen Hürden für die neue Regierung bleiben gross.
Der Regierungswechsel in Warschau zahlt sich für die Polen aus. Gut vier Monate nach dem Wahlsieg des proeuropäischen Bündnisses von Ministerpräsident Donald Tusk hat die Europäische Kommission angekündigt, EU-Gelder freigeben zu wollen, die unter anderem wegen Verstössen gegen die Rechtsstaatlichkeit eingefroren sind.
Dabei handelt es sich um bis zu 137 Milliarden Euro: Gut 76,5 Milliarden stammen aus dem EU-Kohäsionsfonds, mit dem der Lebensstandard in den Mitgliedstaaten angeglichen werden soll. Rund 60 Milliarden stehen Polen aus dem Corona-Aufbaufonds zu, der geschaffen wurde, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern.
Vertrauensvorschuss für Tusk
Die Kohäsionsmittel sollen nun fliessen dürfen, weil die Tusk-Regierung angekündigt hat, die EU-Grundrechte-Charta erfüllen zu wollen, und weil sich Polen an der Europäischen Staatsanwaltschaft beteiligen will. Die nationalkonservative PiS-Regierung hatte eine Teilnahme stets abgelehnt, weil sie eine Einmischung in das polnische Justizsystem befürchtete.
Die Corona-Gelder sollen wiederum freigegeben werden, weil Brüssel damit die zugesagten Justizreformen honoriert. Ursula von der Leyen, die Kommissionschefin, hatte bereits am vergangenen Freitag erklärt, sie sei beeindruckt von den Bemühungen Polens, die Rechtsstaatlichkeit im Land wiederherzustellen. Bei einem Treffen mit Tusk in Warschau sagte von der Leyen, man habe deswegen «gute Nachrichten» für Polen.
Bereits im Dezember war Polen eine erste Tranche der Corona-Hilfen zugesagt worden, die in den Ausbau erneuerbarer Energien fliessen sollten. Das wurde in Brüssel als Vertrauensvorschuss für Tusk gewertet. Der Rest des Geldes, hiess es, sei an gewisse Reformziele, sogenannte Meilensteine, gebunden.
Nun ist die Kommission zum Schluss gekommen, dass Polen die entscheidenden Meilensteine zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz erfüllt hat. Sie verlässt sich auf die Versprechen des früheren EU-Rats-Präsidenten, das polnische Justizsystem grundlegend reparieren zu wollen. Von der Leyen kann freilich nicht alleine entscheiden: Grünes Licht geben erst die Mitgliedstaaten.
Und auch danach wird es noch dauern. Wegen der komplizierten Buchungsregeln, wie es in Brüssel heisst, wird Polen erst einmal 600 Millionen Euro im Laufe der nächsten Wochen und weitere Mittel erst dann erhalten, wenn Warschau ausstehende Unterlagen entsendet.
Rechtsstaatlichkeit und der politische Wille
Pikanterweise begründet Brüssel den Entscheid zur Freigabe zunächst mit einem Gesetz, das die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) verabschiedet hatte: Im Juni 2022 schuf sie die sogenannte Disziplinarkammer am Obersten Gericht ab. Diese war ein Kernelement der Justizreform gewesen. Durch sie übte die PiS Druck auf die Justiz aus und schwächte die Gewaltentrennung. Dennoch verzögerten Störmanöver in Warschau und Brüssel die Auszahlung um mehr als ein Jahr.
Nun lobt die Kommission, dass der neue Justizminister Adam Bodnar explizit den Vorrang des europäischen gegenüber dem polnischen Recht festhalte. Sein Vorgänger hatte dies verneint und damit auch die Anwendbarkeit europäischer Urteile infrage gestellt. Es war dies nur ein Beispiel einer dogmatischen Politik, die nationale Souveränität über alles stellte und so auch die kompromissbereiten Gruppen innerhalb der PiS-Regierung ausbremste.
Deshalb belohnt Brüssel nun massgeblich den politischen Willen der neuen Regierung zur Beilegung des Streits um die Rechtsstaatlichkeit. Den Durchbruch hatte der letzte Woche präsentierte «Bodnar-Plan» gebracht. Darin präsentierte der polnische Justizminister 10 Gesetze. Sie sollen die Auswahlverfahren für Richter neu regeln und den Einfluss der Politik zurückbinden. Das Ziel ist die Rückkehr zum System, das vor dem Machtantritt der PiS bestand.
Allerdings verunmöglicht heute die Existenz zweier paralleler Justizsysteme in Polen faktisch ein rechtsstaatlich sauberes Vorgehen. Die PiS-Regierung und der mit ihr verbündete Präsident Andrzej Duda ernannten Hunderte von Magistraten aufgrund von Prozeduren, die gegen die Verfassung und europäisches Recht verstiessen, angefangen ausgerechnet beim Verfassungsgericht.
Die neue Regierung versucht nun, diese von ihr als «Neo-Richter» betitelten Amtsträger zu umgehen oder gar zu entlassen. Während Gerichte mit «alten» Richtern die Entscheidungen des jetzigen Justizministers stützen, beurteilen sie jene, die von PiS-Anhängern kontrolliert werden, regelmässig als rechtswidrig.
Brüssel will geopolitisch agieren
Auch auf der politischen Ebene bekämpfen sich die Anhänger der alten und der neuen Regierung. Präsident Duda hat das Recht, gegen fast alle Gesetze sein Veto einzulegen, die das Parlament verabschiedet. Damit kann er bis zur Neuwahl 2025 jeden Versuch blockieren, die Justiz zu reformieren. Radikale Kräfte in der Tusk-Koalition fordern deshalb bereits die Anwendung von Notmassnahmen. Sie ziehen Parallelen zu 1989, als die Überwindung eines «Unrechtsregimes» ebenfalls extreme Mittel erforderte. Ähnlich argumentierte allerdings 2015 auch die PiS.
Durchsetzen werden sich diese Kräfte aber kaum. Die neue Regierung wird nichts tun, was sie die Unterstützung in Brüssel kostet. Dennoch wird die EU-Kommission möglicherweise rechtsstaatlich problematische Mittel zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit akzeptieren müssen.
Die proeuropäische Regierung in Warschau braucht das Geld dringend, um die Wirtschaftslage zu verbessern und die zusätzlichen Lasten aufgrund des Ukraine-Krieges zu lindern. Brüssel braucht Warschau wiederum als wichtigen Akteur auf der europäischen Bühne und als starken militärischen Partner an der exponierten Ostflanke.
Eine EU-Kommission, die den Anspruch vertritt, geopolitisch zu agieren, hat deshalb jedes Interesse, Lösungen bei den lähmenden Streitigkeiten um Rechtsstaatlichkeit zu finden. Dafür akzeptiert sie auch Kompromisse mit Akteuren, die ihr politisch deutlich weniger nahestehen als Tusk.
So wurden Ungarn erst im Dezember zehn Milliarden Euro an eingefrorenen Geldern freigegeben, nachdem die Orban-Regierung zumindest auf dem Papier einige Reformen beschlossen hatte. Kaum jemand in Brüssel gab sich deswegen der Illusion hin, dass es um die Rechtsstaatlichkeit im Land seither besser bestellt sei. Doch man brauchte Orbans guten Willen, um bei den Ukraine-Hilfen voranzukommen.