Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung sind die wichtigsten Ziele des Jugendstrafrechtes. Doch genügt das für den Umgang mit gewalttätigen Jugendlichen und minderjährigen Terrorverdächtigen?
An einem Samstagabend vor etwas über einem Jahr wird in Zürich ein 50-jähriger Jude auf offener Strasse mit einem Messer attackiert und schwer verletzt. Kurz darauf steht fest: Der mutmassliche Täter ist ein 15-jähriger Schweizer mit tunesischem Hintergrund. Das Verbrechen sorgt im ganzen Land für Entsetzen und löst sofort eine breite Diskussion aus: Ist das schweizerische Jugendstrafrecht im Umgang mit radikalisierten Jugendlichen zu milde?
Die Zürcher SVP-Nationalrätin Nina Fehr Düsel lancierte kurz darauf eine Motion für eine Verschärfung des Jugendstrafrechtes, mit der sie am Montag prompt Erfolg hatte: Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 95 zu 94 Stimmen bei 3 Enthaltungen befürwortete der Nationalrat die Vorschläge. SVP und FDP stimmten praktisch geschlossen zu, ausserdem schlossen sich Einzelne aus der GLP und der Mitte-Partei an. Die linken Parteien lehnten den Vorstoss ab.
Stimmt der Ständerat ebenfalls zu, muss der Bundesrat eine Vorlage für eine Verschärfung des Jugendstrafrechtes vorlegen. Fehr Düsel schlägt in ihrem Vorstoss unter anderem vor, dass bei schweren Verbrechen ausnahmslos unbedingte Strafen gelten und besonders schwere Straftaten nach dem Erwachsenenstrafrecht beurteilt werden.
Über 200 versuchte Tötungsdelikte durch Minderjährige
Extreme Taten wie der Messerangriff hätten stark zugenommen und der Staat müsse darauf adäquat reagieren können, argumentierte Fehr Düsel in der kurzen Nationalratsdebatte. Nicht zuletzt durch die Zuwanderung hätten Gewaltdelikte zugenommen. Es brauche Mittel, um bei Jugendlichen angemessen reagieren zu können, die sämtliche Systeme ausreizten, erklärte sie.
Tatsächlich zeigen fast alle Statistiken, dass die Jugendkriminalität seit einigen Jahren ansteigt. Insbesondere Gewaltstraftaten nehmen bei Minderjährigen zu. Das war auch im vergangenen Jahr so. Bei rund 17 Prozent der schweren Gewalttaten, von denen die Polizei 2024 erfuhr, war die beschuldigte Person unter 18 Jahre alt.
Minderjährige sollen im letzten Jahr 3 Tötungsdelikte und über 200 versuchte Tötungsdelikte begangen haben. Das zeigt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Mehrere Fälle, bei denen Jugendliche als Terrorverdächtige identifiziert wurden, haben die Besorgnis zusätzlich verstärkt.
Die Diskussion über das Jugendstrafrecht läuft deshalb nicht nur im Bundesparlament: Im Kanton Zürich plädiert beispielsweise der Sicherheitsdirektor Mario Fehr für Verschärfungen: Das heutige Jugendstrafrecht sei angesichts von Taten wie jener gegen den Juden in Zürich kaum mehr erklärbar, sagte er letztes Jahr zur NZZ.
Auch Bundesanwalt Stefan Blättler stellte kurz nach dem Attentat die Frage, ob das Jugendstrafrecht auch für Fälle von radikalisierten Jugendlichen adäquat sei, die bereit seien, Gewalt anzuwenden. Das Jugendstrafrecht könne deshalb sogar ein Handicap bei der Bekämpfung von Terrorismus sein, meinte er.
Jugendanwälte gegen Verschärfung
Interessanterweise gilt das schweizerische Jugendstrafrecht international allerdings als vorbildlich. Das Besondere daran ist, dass Jugendliche nach ganz anderen Kriterien bestraft werden als Erwachsene: Deren Strafe orientiert sich am Unrecht der Tat und am Verschulden des Täters, während bei Jugendlichen die Erziehung und die Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund stehen. Verkürzt gesagt, sollen Jugendliche davon abgehalten werden, endgültig auf die schiefe Bahn zu geraten. Bei Erwachsenen geht es stärker um Abschreckung, Ausgleich des Unrechtes und Resozialisierung.
Es gibt deshalb viele Fachleute, die eindringlich davon abraten, die Grundsätze des Jugendstrafrechtes schleichend zu untergraben. Im Kanton Zürich gehört beispielsweise die Justizdirektorin Jacqueline Fehr dazu: Die Forderung nach längeren Gefängnisstrafen ziele in die falsche Richtung und verkenne die Realität des heutigen Jugendstrafrechtes, erklärte sie. Im Nationalrat nahm Justizminister Beat Jans diese Sicht ein: Jugendliche nach dem Erwachsenenstrafrecht zu bestrafen, könne sogar kontraproduktiv sein und deshalb dem Interesse der Gesellschaft widersprechen.
Interessanterweise sprechen sich auch die meisten Jugendanwältinnen und -anwälte gegen eine Verschärfung aus: Das Jugendstrafrecht funktioniere seit Jahren zuverlässig, die Rückfallquote sei deutlich tiefer als bei Erwachsenen, sagte beispielsweise Alexandra Ott Müller, Leitende Jugendanwältin der Jugendanwaltschaft Winterthur und Expertin für radikalisierte Jugendliche, kürzlich: «Wenn wir eines wissen, dann dass das Wegsperren von Jugendlichen in Gefängnisse oder Bootcamps in vielen Fällen erst recht zu Radikalisierung und zu neuen Straftaten führt.»
Verwahrung von über 16-jährigen Mördern ab Juli möglich
Dennoch scheinen mit dem Entscheid des Nationalrates vom Montag Änderungen wahrscheinlicher zu werden. Bereits zuvor hat die Politik gewisse Korrekturen vorgenommen. So können ab dem 1. Juli dieses Jahres Jugendliche, die zwischen ihrem 16. und 18. Lebensjahr einen Mord begangen haben, unter bestimmten Voraussetzungen verwahrt werden. Das Parlament hatte dieser Änderung zugestimmt, obwohl sie unter Fachleuten umstritten ist. Ziel ist es, die Gesellschaft besser vor gefährlichen Straftätern schützen zu können.
Auch die Kooperation zwischen der Bundesanwaltschaft und den Jugendanwaltschaften wurde inzwischen intensiviert. Bei Terrorverfahren mit minderjährigen Beschuldigten erhält die Bundesanwaltschaft nun frühzeitig Informationen von den zuständigen Jugendbehörden. Das sei entscheidend, da hinter jugendlichen Terrorverdächtigen häufig erwachsene Drahtzieher stünden, betont die Bundesanwaltschaft. Sie möchte ihre Rolle in solchen Verfahren tendenziell noch weiter ausbauen.
Mit Spannung wird zudem ein Bericht erwartet, den der Ständerat vom Bundesrat vor einem Jahr verlangt hatte. Er soll die Wirksamkeit von jugendstrafrechtlichen Sanktionen genauer untersuchen und abklären, ob gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Der Inhalt dieses Berichtes wird entscheidend dafür sein, ob die vom Nationalrat am Montag geforderten Verschärfungen im Jugendstrafrecht wirklich eine Chance haben.