Der englische Autor ist einer der brillantesten Gegenwartsseismographen. «Nach dem Krieg» heisst sein neuer Erzählband, der in zwölf Varianten das gleiche, grosse Trauma verarbeitet: den Alltag nach dem Kampf.
Als es beim Vater des englischen Schriftstellers Graham Swift ans Sterben ging, war ihm die Umnachtung schon anzumerken. Im Kopf des ehemaligen Marinepiloten fanden wieder Gefechte statt. Auf der Militärbasis des Krankenbetts rief er laut den Namen seines Flugzeugs. Der Zweite Weltkrieg, den er überlebt hatte, war in den alten Mann zurückgekehrt. Oder hatte er ihn nie verlassen?
In seinem autobiografischen Buch «Einen Elefanten basteln» hat Graham Swift diese Episode erzählt. Wer sie kennt, wird sie als Kommentar zum Werk des Autors lesen. Zu den sozialen Kampfhandlungen, die es dort fast in jeder Erzählung und jedem Roman gibt. Bei Swift gilt: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.
«Nach dem Krieg» heisst auch sein neuer Erzählungsband. Hier nimmt sich der brillante Gegenwartsseismograph die Freiheit, die Stoffe ins Sepia der Vergangenheit zu tauchen. Es sind Geschichten mit geheimsten Aufladungen, aber erzählt sind sie vor der Folie der beiden Weltkriege, von Pearl Harbor, 9/11 und der Corona-Pandemie.
Die Gemeinschaft der Deklassierten
«Zoo» heisst Graham Swifts Geschichte rund um das Dienstmädchen Lucy, das am Londoner Regent’s Park im Haushalt eines amerikanischen Diplomaten arbeitet. Die Tochter philippinischer Einwanderer teilt ihren Geburtstag mit dem Todestag John F. Kennedys, aber das ist nicht der einzige politische Fluchtpunkt in dem dramatisch sich zuspitzenden Plot.
Ihre Spannung bekommt die Erzählung aus einem Trick, den Swift längst perfektioniert hat und der auch in der deutschen Übersetzung von Susanne Höbel seinen Reiz nicht verliert. Es sind die kaum merklichen Gesten des Alltags, die der Engländer aus ihren Routinen befreit und sie durch genaue Beschreibung mit Bedeutung auflädt.
Was wir in «Zoo» sehen: Lucy, die sich einmal mehr um Danny kümmern muss, den Sohn des Diplomatenpaares Olson. Eine Abschiedsparty im eleganten Haus muss vorbereitet werden, die Rückkehr nach Amerika ist geplant. Danny und Lucy bilden eine innige Gemeinschaft zweier Deklassierter. Das Kind ist den lebenshungrigen und vielbeschäftigten Eltern im Weg, und das Dienstmädchen muss ihnen diesen Zustand erträglich machen. Immerhin: Lucy, als Migranten-Tochter am bescheidenen Gipfel beruflicher Möglichkeiten angekommen, verdient gut.
Zwischen den beiden Hauptdarstellern in Swifts Erzählung genügt ein Zwinkern, um sich zu verstehen. Längst sind die Tiere des Zoos in diesen Freundschaftspakt aufgenommen. Die Besuche dort haben sich gehäuft, und es könnte ein schöner Herbsttag unter blauem Londoner Himmel werden, wäre da nicht dieses Datum. Der 11. September 2001.
Man liest und weiss: Die Idylle am Regent’s Park war nur ein Vorhang. Er wird mit einem Ruck zur Seite gezogen, und das Grauen ist da. Die amerikanische Diplomatie, die Graham Swift mit fast schon satirischer Überhöhung zeigt, kippt von den Augenblicken des Privaten zurück in ihren öffentlichen Auftrag. Es herrscht Panik.
Zwölf Varianten eines grossen Traumas
Man kann dem Buchtitel «Nach dem Krieg» vorwerfen, dass er wenig spezifisch ist, aber tatsächlich zeigen die zwölf Erzählungen allesamt Konkretionen eines Traumas. Der Krieg hat sich in den Familiengeschichten fortgepflanzt, ist in den tradierten Erinnerungen gespeichert und erlebt in Friedenszeiten immer neue Aktualisierungen.
Es geht bei Graham Swift nicht nur um einen Exzess militärischer Aktionen, sondern auch um zwischenmenschliche Muster, die noch auf kleinstem Raum ihre Opfer fordern. In englischen Kleinstädten oder den wenig komfortablen Vierteln Londons. Dort spielt die Erzählung «Blaue Flecken».
Schweigende Männer! Was spricht dafür, mit ihnen eine Beziehung zu haben, wenn sie selbst nicht sprechen? Graham Swift macht aus diesem Thema einen kleinen literarischen Film. In melancholischer Stille sitzt der Mann von Shirley Abend für Abend am Küchentisch und findet die ganze Welt zu laut. Lärm hatte er früher beim Kavallerieregiment der Royal Hussars genug, wie er sagt. Irgendwann kommt es zum Streit. Die Sache eskaliert, bis der entscheidende Satz fällt: «Schmeisst du mich raus, Shirl?»
Die Frau wirft den Kerl, mit dem sie seit Jahren zusammen ist, tatsächlich raus. Das ist die eine Hälfte der Geschichte. Da weiss man schon, dass sie zum finsteren Wort «Krieg» passt, das Graham Swift sich für seinen Buchtitel ausgesucht hat. Der Rest der Erzählung aber ist eine Art Komödie.
Der Mann geht in ein Pub und denkt ein bisschen über seine Zukunft nach. Nach ein paar Bier gerät der Betrunkene in eine Schlägerei, legt sich mit dem Barkeeper an und wird auch von diesem rausgeworfen. Auf der Kreuzung vor dem Lokal wird der Mann noch in Position gebracht, um zur Hölle zu gehen. Er marschiert brav in die vorgeschlagene Richtung und landet an der Tür von Shirley. Himmel oder Hölle? Eher Ersteres. Sie nimmt ihn wieder auf, und in derselben Nacht wird auch noch Nachwuchs gezeugt. Das menschliche Dasein ist, man kann es nicht anders sagen, die reinste Lotterie.
Versöhnung ist möglich
Das Politische kommt bei Graham Swift nicht mit selbstgerechtem Paukenschlag daher. Seine Geschichten können der kriegserschütterten Welt ein Friedensangebot unterbreiten. Weil sie an das Gute im Menschen nicht nur glauben, sondern seine Möglichkeiten auch präzise beschreiben. Das ist Hoffnung trotz Krieg – wer könnte solches heute nicht gebrauchen.
Die Bandbreite von Swifts Geschichten ist gross. In «Der Nächstbeste» fällt die Handlung in die Nachkriegszeit. Hier steht ein Herr Büchner im Mittelpunkt, der jetzt deutscher Rathausbeamter ist, früher aber als Wehrmachtssoldat in Afrika gekämpft hat. Zu Kriegsende war er Gefangener in England. Zu ihm kommt der britische, in Deutschland stationierte Gefreite Caan. Er ist auf der Suche nach im Krieg verschollenen Verwandten. Büchner ist eigentlich für den Fall nicht zuständig, will aber trotzdem helfen.
Dieser Versuch bürokratischer Wiedergutmachung wird von Graham Swift dramaturgisch meisterhaft dargestellt. Er konterkariert die Brutalität des Zweiten Weltkriegs mit einer Allegorie aus Ärmelschonern und Erhabenheit. Versöhnung ist möglich und Herr Büchner nach der Begegnung mit dem Gefreiten Caan ein anderer Mensch.
Wie aus verlorenen Figuren Menschen werden
Graham Swift, der seit Jahrzehnten in der obersten Liga der angloamerikanischen Literatur spielt, ist ein Meister des Understatements. Seine Prosa ist mit Gefühlen der Zuneigung, bisweilen auch der Liebe fermentiert, und man darf diese Augenblicke nicht verpassen.
«Schwarz» heisst die Geschichte der jungen Arbeiterin Nora, die in der englischen Provinz Fallschirme zusammennäht. Es ist das Jahr 1944, sie ist achtzehn und wagt in einem Bus das Unerhörte: Während die anderen Fahrgäste einen Sicherheitsabstand zu einem schwarzen amerikanischen Soldaten halten, setzt sich Nora direkt neben ihn. Sie kommt mit dem Mann aus Alabama ins Plaudern. Nach ein paar Minuten Fahrt steigt sie aus dem Bus. Sie weiss, sie wird ihn nie wieder sehen. Aber sie weiss auch, dass sie ihn nie vergessen wird.
Graham Swifts Figuren werden mitunter von solchen Gefühlsblitzen niedergestreckt, aber die Wetterlage ist nicht immer so übersichtlich wie hier. In «Schönheit» ist die Sache kompliziert. Mr. Philipps hat vom Selbstmord seiner Enkeltochter erfahren und möchte sich auf dem Universitätscampus, wo sie studiert hat, ihr Zimmer ansehen. Eine seltsame Idee, denn das Zimmer ist schon geräumt. Die Uni-Dekanin führt den alten Mann über das Gelände. Mitten in seinem Zustand der Trauer ist er plötzlich von etwas anderem berührt: von der Schönheit dieser Frau, die frierend neben ihm geht. Er verliebt sich. Was er da spürt, ist dann so plötzlich, wie es gekommen ist, wieder weg. Es bleibt als Rätsel neben ihm, als er wieder im Zug sitzt, der ihn nach Hause bringt.
«Selbst, wenn du hier bist, bist du nicht hier», sagt Shirley zu ihrem schweigenden Mann. Das ist einer der wichtigsten Sätze im Erzählungsband «Nach dem Krieg». Die Figuren, die hier vorkommen, sind anwesende Abwesende. Sie führen innere Kriege mit sich selbst oder sind durch ihre Erinnerungen in kriegerische Vergangenheiten verstrickt. Die grosse Kunst des Graham Swift: Er macht, dass aus den daseinsverlorenen Figuren Menschen werden, und als diese Menschen sind sie ganz da.
Graham Swift: Nach dem Krieg. Zwölf Erzählungen. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. DTV-Verlag, München 2025. 296 S., F. 36.90.