Für die Impressionisten hatte er ein Herz aus Gold, für die Arbeiter einen respektvollen Blick: Gustave Caillebotte war ein kluger Beobachteter seiner Zeit.
Caillebotte, wer? Die Bewohner von Yerres, die vor dem Bahnhof auf den Bus warten, schütteln den Kopf. «Caillebotte, ein Maler? Und der soll hier ein Haus gehabt haben?» Zehn Gehminuten später öffnet ein Gittertor den Weg in einen englischen Park. Kinder laufen über die Wiesen, ein Springbrunnen murmelt vor sich hin, im Teesalon klappern Tassen. Wäre da nicht der Rasenmäher, der brummend das Grün trimmt, könnte man meinen, die Caillebottes kämen gleich aus dem Haus.
Gustave Caillbottes Vater hat die Villa 1860 möbliert gekauft. Geld spielt keine Rolle. Mit Fleiss und Geschäftssinn hat es der Textilunternehmer aus der Normandie zum Heereslieferanten gebracht. An Kriegen mangelt es in seinem Jahrhundert nicht. Daran soll hier aber nichts erinnern. Für die Söhne Alfred, Gustave, René und Martial bedeutet Yerres das Sommerparadies. Paris ist nur 24 Kilometer weit weg, doch die Stadt ist unerträglich geworden. In den heissen Monaten klebt der faulige Gestank der Schlachthöfe und der Mülldeponien in den Strassen.
Präfekt Georges-Eugène Haussmann zwingt gerade im Auftrag von Kaiser Napoleon III. die ärmeren Bewohner dazu, sich in Baracken ausserhalb des Zentrums anzusiedeln. Er lässt Teile der Stadt in Schutt und Asche legen, um das moderne Paris zu formen. Die bis heute andauernde Vertreibung wenig wohlhabender Menschen nimmt hier ihren Anfang.
Gustave und Martial werden nach dem frühen Tod von René und dem Ableben der Eltern 1879 den Wohnsitz in Yerres verkaufen, aber die Erinnerungen an ein glückliches Familienleben und den Duft dieser Freiheit mit sich nehmen. Mit den ererbten Millionen hätte Gustave es bequem: Er könnte nach dem Militärdienst im Krieg von 1870/71 Jurist werden, in der neuen Ellenbogengesellschaft weiter aufsteigen und in den Salons Smalltalk betreiben. Oder die Tage als Rentier verplempern, seinen Zylinder polierend, jenes Kleidungsstück, das jetzt Inbegriff von Männlichkeit und Status ist. Doch Gustave denkt nicht daran, Klischees zu bedienen.
Mann ohne Illusionen
Im Musée d’Orsay hängt derzeit sein letztes Selbstporträt, 1892, zwei Jahre vor seinem Tod gemalt. Gustave Caillebotte schaut in den Spiegel und sieht gleichzeitig sein heutiges Gegenüber an. Die Haare, fast weiss, sind kurz geschoren, der Bart ist akkurat gestutzt. Er trägt die dunkelblaue Cabanjacke des Skippers. Die Falten seines Gesichts sind die eines Mannes, der die wechselnden Winde nicht gescheut hat. Jene nicht, denen er als Segler auf hoher See ausgesetzt war, und die Wetterumbrüche nicht, die das Leben bescherte.
Die Interpretation seines Blicks liegt im Auge des Betrachters. Manche vermeinen darin Melancholie zu sehen. Vielleicht ruht darin aber auch die Freiheit, die er sich entgegen vielen Konventionen genommen hat – als Maler und als Mann. Vielleicht ist es auch der Blick eines Menschen, der sich keine Illusionen mehr zu machen braucht, weder über sich selbst noch über die Zeit, deren genauer Beobachter er geworden ist.
Die Historiker haben es jedenfalls nicht leicht mit ihm: Gustaves Briefe vernichtete die Witwe seines Bruders Martial. Vermutet wird eine Animosität. Hatte Gustave Caillebotte doch auf dem Land draussen bei Argenteuil mit Charlotte Berthier zusammengelebt, einer Frau aus dubiosen Unterschichtsverhältnissen. Er nimmt sie als Zuschauerin zu seinen Regatten in die Normandie mit, besucht mit ihr Pariser Theater, stellt sie Monet, Renoir und den anderen Malerfreunden vor, aber er heiratet sie nicht.
Trotzdem vermacht er ihr in seinem Testament Geld und ein Haus. Auf einem seiner Bilder sitzt sie gross da und liest Zeitung, während Gustave klein im Hintergrund auf dem Sofa liegt und sich als passionierter Leser moderner Romane in ein Buch vertieft. Noch heute zerbrechen sich Ausstellungsmacher darüber den Kopf, welche Art von Partnerschaft das gewesen sein könnte.
Das erste Quartal des 21. Jahrhunderts scheint es ausserdem bemerkenswert zu finden, dass Gustave Caillebotte viele Männer malte, unverheiratete noch dazu, und dann obendrein einen, der sich im Badezimmer auszieht und seinen Po sehen lässt, in der Art, wie in vielen Gemälden zuvor Frauen bei der Toilette dargestellt wurden.
Die Spekulationen über eine Homosexualität tauchten erstmals im Jahr 2000 in den USA auf. In diesen Tagen greifen die französischen Zeitungen das Thema wieder auf. Ein Kunstmagazin spricht verdruckst von «Homosozialität». Um es kurz zu machen: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Gustave Caillebotte eine sexuelle Vorliebe für Männer gehabt haben könnte.
Paul Perrin, Direktor der Sammlungen des Musée d’Orsay, verwahrt sich im Magazin «Le Point» gegen haltlose Annahmen, die zudem aus künstlerischer Sicht nicht von Belang wären. Das Gerücht nährt sich wiederkehrend von einer Fotografie. Gustave Caillebotte steht 1868 in Frauenkleidern vor der Kamera. Sich so für einen der damals beliebten Kostümbälle zu verkleiden, wäre allerdings nicht ungewöhnlich gewesen.
Vielleicht hat er auch nur als Künstler ausprobiert, wie es sich anfühlt, korsettiert zu sein. Ein Frauenakt von 1880 trägt die Male des Folterinstruments. Eines seiner Bilder von 1876, das im Musée Baron Gérard in Bayeux hängt, zeigt drei Generationen von Frauen, die sich – eingeschnürt in ihre Kleider – vor dem Haus in ihre Näharbeiten vertiefen. Die vermeintliche Idylle kommentiert die Zeit. Männer konnten sich Freiheiten nehmen, politisch und in Geschäften aktiv sein, in Klubs andere Männer treffen und ungehindert boxen, reiten und rudern. Für die Frauen sollte es trotz der 1876 beginnenden Frauenrechtsbewegung noch ein mühsamer Weg dahin sein.
Im Grossbürgertum waren die Verhältnisse klar: Intelligenz und Denken waren die Domäne der Männer, Gefühle standen den Frauen zu. Nur die Frauen der Arbeiterschicht hatten für solchen Firlefanz nichts übrig. Sie waren damit beschäftigt, gemeinsam mit ihren Männern ums tägliche Überleben zu kämpfen. Émile Zola, Gustave Flaubert und Guy de Maupassant legen in ihren Romanen diese Epoche schonungslos bloss.
Die Würde der Arbeiter
Gustave Caillebotte bewegt sich von Jugend an in dieser Männergesellschaft. Feinfühlig hält er Nuancen fest. Der Krieg war verloren, Napoleon III. geflohen, die Dritte Republik konstituiert sich. Während die Bourgeoisie es sich wieder richtet, geht es den Arbeitern so dreckig wie immer. Nach wie vor blickt man auf sie herab. Ein Skandal also, dass dieser Caillebotte nun Männer auf die Leinwand bringt, die körperlich schwer arbeiten. Für ihn haben sie jedoch Würde.
Einer der Parkettschleifer trägt einen schönen Ring. Die Fassadenmaler sind stolz auf das, was sie machen. Und die Männer der Porträts? Es sind nicht die Gesellschaftslöwen und die Börsenhaie, die hier auftauchen. Es sind diejenigen, die ihre innere Einsamkeit spüren, die einen Moment lang der Brutalität der Metropole entkommen oder arrangierten, lieblosen Ehen ausgewichen sind.
Gustave Caillebotte zieht offensichtlich treue Freundschaft vor. Er bringt sie ohne Wenn und Aber den Künstlern des verlachten Impressionismus entgegen. Weggefährten und Lehrer beschreiben Facetten seiner Persönlichkeit so: ein scharfer Verstand, begabt in Latein, Mathematik und Sport, interessiert an Philosophie, Literatur, Geschichte und Politik. Er sucht die Abwechslung, ist schüchtern, zurückhaltend und etwas empfindsam, was Kritik betrifft. Jähzornig soll er gewesen sein, aber aufrecht im Charakter. Wettbewerb liegt ihm. Faulenzerei mag er nicht. Unaufdringlich hilft er, wo er kann.
Von 1894 an liegt Gustave Caillebottes «Wohnstätte» in der Avenue des Ailantes, Division 70, auf dem Friedhof Père Lachaise. Sein enger Freund Claude Monet trauert: «Wenn er doch noch leben würde, anstatt mit 45 Jahren zu sterben, hätte er vom selben Glück profitiert wie wir, denn er hatte grosses Talent. Wir sind ihm alle mehr oder weniger auf der Tasche gelegen, unserem Freund und Arbeitskameraden Caillebotte. Immer hat er die Mittel gefunden, uns in kritischen Momenten ein Bild abzukaufen, manchmal zwei, um uns vor dem Hunger zu retten oder vor dem Gerichtsvollzieher. Was für ein Herz aus Gold und wie sehr müssen wir jetzt weinen.»