In den letzten zwölf Jahren zogen sich Vorwahlen für die amerikanische Präsidentschaft viele Monate lang hin. Weshalb sollte dies 2024 anders sein? Ein Blick auf die Besonderheiten der republikanischen Wahlregeln liefert eine klare Antwort.
Mit seinem Sieg in der Vorwahl von Iowa vor einer Woche hat der frühere amerikanische Präsident Donald Trump seine Dominanz im republikanischen Lager eindrücklich unter Beweis gestellt. Für viele Beobachter steht bereits fest, dass die Partei ihn zum offiziellen Herausforderer von Präsident Joe Biden küren wird. Doch wie gut abgestützt ist diese Einschätzung?
Als repräsentativ können die Wahlteilnehmer von Iowa nicht gelten. Nur 15 Prozent der dortigen Republikaner nahmen sich die Mühe, zu den Vorwahlversammlungen (Caucuses) zu erscheinen, und fast die Hälfte von ihnen bevorzugte andere Bewerber. Ein genauerer Blick auf die Ausgangslage und die Tücken des Vorwahlsystems ist deshalb nötig.
Iowa ist oft bedeutungslos
Vier Argumente gegen Trumps unausweichlichen Sieg lassen sich anführen. Erstens hat das Resultat von Iowa, historisch betrachtet, keine grosse Prognosekraft. In diesem Jahrhundert gab es bisher drei Präsidentschaftswahlen, bei denen die Republikaner keinen Amtsinhaber ins Rennen schicken konnten und deshalb Vorwahlen für einen neuen Kandidaten ausfechten mussten. In allen drei Fällen blieb Iowa bedeutungslos. John McCain im Jahr 2008, Mitt Romney 2012 und Donald Trump 2016 mussten sich in dem agrarisch geprägten Staat geschlagen geben, setzten sich aber später trotzdem durch.
Zweitens hat sich der nächste Vorwahlstaat, New Hampshire, oft als Sprungbrett für Präsidentschaftsbewerber erwiesen, nicht nur für die drei erwähnten Republikaner. Entscheidend bei amerikanischen Vorwahlen ist oft das berühmte «momentum» – wer plötzlich die Aura des Gewinners geniesst, erhält ungeahnte Schubkraft. Auf solchen Elan dank einem Sieg in New Hampshire hofft nun auch Trumps schärfste Rivalin, Nikki Haley. Die frühere Uno-Botschafterin und Gouverneurin hat in den Umfragen rasant aufgeholt. Sie wahrt damit eine gewisse Chance, bei der Primärwahl am Dienstag Trump noch zu überflügeln.
Theoretisch könnte ihr dies Schwung geben für die nächste wichtige Primärwahl, jene in South Carolina – ihrem Heimatstaat. Drittens zeigt die Erfahrung, dass selbst Vorwahlen mit einem klaren Favoriten langwierige Auseinandersetzungen sein können. Trump 2016 und vier Jahre davor auch Romney mussten bis Ende Mai kämpfen, bis ihre letzten Rivalen aufgaben und sie genügend Delegierte für die Nomination hinter sich hatten. In einem so langen Zeitraum lässt sich ein ernster Fehltritt nie ausschliessen.
Viertens ist in diesem Jahr eine Konstellation eingetreten, die sich Trumps Gegner 2016 sehnlichst gewünscht hatten: Damals hatten sich die Anti-Trump-Stimmen auf viele Bewerber verzettelt, diesmal lichtete sich das Feld früh. Neben Trump bleibt nur noch Haley im Rennen, nachdem sich am Sonntag ihr Konkurrent Ron DeSantis zurückgezogen hat.
Wahlregeln mit Fussangeln
Diese vier Argumente halten einem Realitätstest jedoch kaum stand. Der Grund liegt in einer Kombination aus Trumps breitem Rückhalt und den Eigentümlichkeiten des republikanischen Vorwahlsystems. Die entsprechenden Regeln sind derart komplex, dass amerikanische Medien meist einen grossen Bogen darum herum machen. Doch nach einer Analyse dieser Regeln drängt sich eine Prognose auf: Trump wird einen Triumph erzielen, und zwar in einem Ausmass, wie es im historischen Vergleich ungewöhnlich ist.
Auf den ersten Blick mag dies erstaunen, weil die Republikaner in diesem Jahrhundert Regeln eingeführt haben, die ein ausgeglicheneres, «faireres» Rennen ermöglichen sollen. 2010 ordnete die Parteiführung ein Proporzsystem für die entscheidenden frühen Vorwahlen an. Die Bewerber sollen dabei ungefähr im Verhältnis ihres Wahlresultats Delegierte für den Nominationsparteitag zugeteilt bekommen. Will eine Parteisektion auf dem Vorwahlkalender einen vorderen Platz, darf sie ihre Delegierten nicht nach dem «Winner take all»-System verteilen. Dieses besagt, dass der Bewerber mit der höchsten Stimmenzahl alle Delegierten des betreffenden Staates erhält («Der Gewinner nehme alles») und die anderen Bewerber leer ausgehen.
Die Regeländerung war eine Reaktion auf die Vorwahlen von 2008, in denen sich John McCain mit knappen Siegen innert Wochen durchgesetzt hatte. Mit einem Stimmenanteil von jeweils nur um die 40 Prozent triumphierte er beispielsweise in den grossen Staaten Kalifornien und Florida und sicherte sich dank dem «Winner take all»-Prinzip einen uneinholbaren Vorsprung bei den Delegierten. Das wäre heute nicht mehr möglich.
Vorwahlen vor Mitte März – das betrifft die Mehrheit der Gliedstaaten – müssen nun Proporzelemente zugunsten der «Verlierer» aufweisen. Das hat normalerweise zur Folge, dass sich schwächere Bewerber länger im Rennen halten können, weil auch sie einen Teil der Delegierten ergattern. Eine Ausnahme konnte sich nur South Carolina erkämpfen, wo weiter das «Winner take all»-Prinzip gilt. Das wäre ein Pluspunkt für Haley, sollte sie dort ihren Heimvorteil nutzen können.
In einem Wunschszenario des Anti-Trump-Lagers würde Haley somit am Dienstag in New Hampshire gewinnen und dann in einem Monat einen Sieg im delegiertenreichen Staat South Carolina einfahren. Sie stünde damit auf einen Schlag an der Spitze der Rangliste.
Doch das ist derzeit nur ein schöner Traum. Trotz einer erfolgreichen Regierungszeit als Gouverneurin ist Haley in ihrem Heimatstaat keineswegs die Favoritin. Sollte Trump in South Carolina gewinnen, wäre er der grosse Profiteur der dortigen «Winner take all»-Regeln.
Zur eigentlichen Katastrophe für Haley könnte der «Super Tuesday» vom 5. März werden. An diesem Tag werden aufs Mal mehr als ein Drittel der republikanischen Delegierten verteilt. Zwar kommen dabei überall Proporzregeln zur Anwendung, wie die folgende Grafik zeigt:
Aber diese Regeln haben einen Haken: In den meisten Fällen gelten sie nur, solange kein Bewerber eine absolute Mehrheit erringt. Wenn jemand 50 Prozent übertrifft, erhält er alle Delegierten des jeweiligen Staates. Das Verhältniswahlrecht kommt somit nur zum Tragen, wenn drei oder mehr Bewerber relativ eng beieinander liegen – dominiert hingegen ein einzelner, so räumt er ab.
Das geschrumpfte Bewerberfeld stellt für Haley daher keinen Vorteil dar, im Gegenteil. Bei einem Zweikampf mit Trump, in dem sie immer unter 50 Prozent bleibt, geht sie leer aus, zumindest in den Staaten mit eingeschränktem Proporz. Eine Simulation der Vorwahlen unter der Annahme, dass Trump jeweils im Verhältnis von 60:40 Prozent gewinnt, ergibt folgendes Resultat: Trump käme dann bis zum «Super Tuesday» auf knapp 1000 Delegierte, Haley nur auf etwa 150. Es wäre ein uneinholbarer Rückstand; die Republikanerin müsste aufgeben.
Haley fehlt eine politische Hochburg
Haley kann sich deshalb nur länger halten, wenn sie in mehreren Staaten selber zur Favoritin wird und sich das vertrackte Wahlsystem zunutze machen kann. Derzeit ist sie nirgends in einer solchen Lage. Eine bittere Ironie besteht darin, dass von allen «Super Tuesday»-Staaten am ehesten Colorado eine Chance bietet – einzig deshalb, weil die dortige Justiz Trump von den Wahlzetteln gestrichen hat. Der Supreme Court der USA könnte dies aber noch rückgängig machen.
Kritiker mögen diese eingeschränkten Proporzregeln für unfair halten, aber dies greift zu kurz. Haleys Grundproblem ist nicht das Wahlsystem, sondern die Tatsache, dass sie weniger populär ist als Trump. Noch hat sie eine kleine Chance, dies zu ändern, aber das Zeitfenster schliesst sich rasch. Wenn sie in den zwei Dutzend Vorwahlen bis Anfang März kein Rezept findet, ergäbe es auch keinen Sinn, mit einem strengen Proporz die Ausmarchung unnötig in die Länge zu ziehen.
Spektakuläre Überraschungen gab es in der Geschichte der amerikanischen Vorwahlen immer wieder. Aber in der jetzigen Konstellation wird Trump spätestens am 5. März als Sieger dastehen und sich ungefähr am 19. März auch formal die Mehrheit der Delegierten gesichert haben. Das wäre eine vergleichsweise kurze Dauer.
Trump könnte sogar einen eigentlichen Vorwahlkantersieg erringen, mit Erfolgen in sämtlichen Gliedstaaten. In der Geschichte der beiden Grossparteien ist dies, abgesehen von wieder antretenden Präsidenten, noch nie jemandem gelungen – und wäre, ohne Trumpsche Übertreibung, «really huge».