Was hat die MV «Ruby» vor?
Jacob Kaarsbo hat einen Verdacht. Er ist Spezialist für transatlantische Sicherheit und leitender Analyst für die Denkfabrik Europa in Kopenhagen. In den letzten Wochen hat er die Bewegungen der MV «Ruby» nahe verfolgt und sagt: «Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass das Schiff die Absicht hat, Düngemittel von A nach B zu transportieren.»
Kaarsbo ist überzeugt, dass die MV «Ruby» im Auftrag des Kremls unterwegs ist. Seine These: «Es geht darum, die westlichen Staaten zu testen.» Wie reagieren die Länder, wenn sich ein Schiff mit gefährlicher Fracht Städten oder kritischer Infrastruktur nähert? Werden die Behörden davon überrascht, agieren sie ad hoc? Oder sprechen sich die Nato-Mitglieder ab? «Alles Fragen, die für künftige hybride Operationen Russlands interessant sein könnten.»
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine mehren sich in Nordeuropa seltsame Zwischenfälle: Züge entgleisen, GPS-Signale werden gestört, Migranten aus Drittstaaten wie Jemen und Somalia tauchen an der finnischen Ostgrenze auf. Auf den ersten Blick scheinen die Ereignisse nichts miteinander zu tun zu haben, doch die Indizien zeigen in dieselbe Richtung: nach Moskau. Experten sprechen von hybriden Attacken. Der Kreml versucht damit Verunsicherung zu stiften.
Auch die MV «Ruby» sorgte in den letzten Wochen für Schlagzeilen und Aufregung. Das Ammoniumnitrat, das der Frachter an Bord hat, führte 2020 in Beirut zu einer Explosion, bei der 218 Menschen starben. Doch auf den Meeren sind täglich unzählige Schiffe mit gefährlichen Gütern unterwegs. Russland ist einer der grössten Produzenten von Ammoniumnitrat, Las Palmas einer der wichtigsten Häfen, über die Russland Güter in die afrikanischen Länder transportiert. So weit, so unverdächtig.
Was also lässt Kaarsbo denken, dass die MV «Ruby» kein gewöhnlicher Frachter sei?
Um herauszufinden, ob an Kaarsbos Theorie etwas dran sein könnte, haben wir die Positionsdaten des Schiffes analysiert und mit Medienberichten, Polizeimeldungen und Wetterdaten verglichen. Die Positionsdaten stammen von Marinetraffic, einem Anbieter für maritime Datenanalyse, der den Schiffsverkehr verfolgt.
Einen ersten Hinweis liefern die Besitzverhältnisse: Die MV «Ruby» fährt unter maltesischer Flagge und wird von einem Unternehmen in Libanon betrieben. Der Eigentümer des Schiffs soll das syrische Unternehmen Samin Shipping sein, und es transportiert russische Güter. Für Kaarsbo spricht dies dafür, dass die MV «Ruby» Teil von Russlands Schattenflotte ist.
Seit dem Angriff auf die Ukraine haben westliche Länder den Handel mit Russland stark eingeschränkt. Putin umgeht die Sanktionen des Westens mit einer sogenannten Schattenflotte. Diese besteht aus veralteten Schiffen, die unter der Flagge von Drittstaaten fahren und mit Sanktionen belegte Güter wie Öl oder Flüssiggas (LNG) aus Russland in die Welt transportieren. Ammoniumnitrat steht nicht auf der Sanktionsliste, aber womöglich hatte die MV «Ruby» einen anderen Auftrag.
Zweifel an den Absichten der MV «Ruby» kommen auf, wenn man sich die Bewegungen des Schiffs genauer anschaut. Laut verschiedenen Medienberichten ist die MV «Ruby» kurz nach dem Start auf Grund gelaufen. «Nordlys», die Lokalzeitung von Tromsö, kommt zu dem Schluss, dass der Unfall bereits in der Bucht von Kandalakscha passiert sein muss. Um die Kola-Halbinsel herum gebe es nur dort Untiefen. Weshalb kehrte der Frachter nicht um, wenn er so kurz nach dem Start beschädigt wurde? Wieso steuerte er nicht den Hafen von Murmansk an, sondern setzte seine Fahrt in das Europäische Nordmeer fort?
Nördlich von Norwegen soll das Schiff erneut in Schwierigkeiten geraten sein. In der Nacht vom 25. August fuhr die MV «Ruby» in die norwegische Wirtschaftszone – angeblich suchte das Schiff dort Schutz vor einem Sturm. Daten des Meteorologischen Instituts von Norwegen zeigen, dass der Wind an jenem Tag an der Küste Geschwindigkeiten von 17 Metern pro Sekunde erreichte. Ein Sturm mit Windböen von 31 Metern pro Sekunde kam erst zwei Tage später auf. Auch dies ist für das Nordmeer nicht aussergewöhnlich. Kaarsbo hält es daher für fraglich, dass die MV «Ruby» die norwegischen Gewässer wegen der Wetterverhältnisse ansteuerte.
Als die norwegische Schifffahrtsdirektion das Schiff am 3. September im Hafen von Tromsö untersuchte, kam die Behörde zu dem Schluss, dass es fahrtüchtig sei. «Für die Direktion ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Schiff in seinem jetzigen Zustand kein grösseres Risiko darstellt als im Normalbetrieb», heisst es in einer Medienmitteilung. Kaarsbo sagt: «Es scheint so, als gebe es nur dann Probleme, wenn sich die MV ‹Ruby› in der Nähe von kritischer Infrastruktur befindet.»
Ein Blick auf die Karte stützt Kaarsbos Verdacht: Die MV «Ruby» ändert den Kurs vor der dichtbesiedelten Stadt Tromsö. Vor der Insel Andoya, auf der sich ein Luftwaffenstützpunkt und ein Startplatz für Weltraumraketen befinden. Vor dem Stützpunkt der norwegischen Marine in Bergen. Und dann sind da die Ziele, die sich ständig ändern: Las Palmas in Spanien, Klaipeda in Litauen und jetzt Masaxlokk in Malta. «Es ist unklar, wohin das Schiff wirklich unterwegs ist.»
Mit welchem Auftrag die MV «Ruby» im August in See gestochen ist, lässt sich vielleicht nie abschliessend beantworten. Unklar ist, wann und wo das Schiff auf Grund gelaufen ist, ja sogar, ob es überhaupt einen Unfall gab oder ob das Schiff bereits beim Auslaufen in Kadalakscha beschädigt war. Zurzeit fährt das Schiff weiter nach Süden – auch wenn die maltesischen Behörden bereits angekündigt haben, die MV «Ruby» nicht in einen Hafen einfahren zu lassen.
Falls Kaarsbo recht haben sollte, hat der Kreml sein Ziel bereits erreicht – zumindest teilweise. «Wie eine Atombombe der ersten Generation» («Tagesspiegel»), «Schwimmende russische Bombe» («The Telegraph»): Die Aufregung über den beschädigten Frachter ist seit Tagen gross, die Medien überbieten sich mit Schlagzeilen. Dabei ist die Verunsicherung wohl grösser als die reale Gefahr, die von der MV «Ruby» ausgeht. Ammoniumnitrat explodiert nicht von allein. Und mit Blick auf die Meeresstrasse zwischen den Inseln Fünen und Seeland sagt Kaarsbo: «Es war bestimmt nie der Plan, den Grossen Belt in die Luft zu jagen.»
Falls der Kreml die Nato-Staaten testen wollte, haben sie den Test bestanden. Norwegen wurde zwar anfangs überrascht, reagierte aber später entschieden und liess den Frachter entlang seiner Küste von einem Schleppboot begleiten. Dänemark, Schweden und Litauen kündigten früh an, die MV «Ruby» mit ihrer Last nicht in ihre Häfen zu lassen.
Dänemark will die Durchfahrt maroder Tanker durch den Grossen Belt schon lange eindämmen. Dabei geht es nicht nur darum, die Sanktionen gegen Russland durchzusetzen. Die Schattenflotte ist eine Gefahr für die Umwelt, denn die Schiffe sind nicht nur in schlechtem Zustand, sondern fahren auch mit Besatzungen, die sich in der schwer zu manövrierenden Ostsee nicht auskennen. Die Causa «Ruby» ist eine Art Etappensieg. Doch die nächsten Schiffe des Kremls nähern sich bereits.
Quellen Bilder: Marinetraffic, Mikhail Alaeddin, Google Earth, EPC-Group