In syrischen Lagern werden Tausende von IS-Anhängern aus Drittstaaten festgehalten. Eine türkische Journalistin hat herausgefunden, wie es einigen Frauen gelingt, sich ins Ausland abzusetzen.
Seit der Niederschlagung des sogenannten Kalifats des Islamischen Staates (IS) halten die kurdischen Kräfte im Nordosten Syriens Zehntausende von Anhängern der Terrororganisation fest. Die ehemaligen Kämpfer sitzen in überfüllten Gefängnissen, ihre Frauen und Kinder, zusammen mit anderen Flüchtlingen, in staubigen Lagern.
Das grösste und berüchtigtste Lager al-Hol liegt nahe der Grenze zum Irak und beherbergt mehr als 40 000 Bewohner aus 40 verschiedenen Nationen. Weit mehr als die Hälfte von ihnen ist minderjährig.
Katastrophale Bedingungen
Die syrischen Kurden fordern seit Jahren die Herkunftsländer der internierten IS-Sympathisanten auf, ihre Staatsbürger zurückzunehmen und sie in der Heimat zu reintegrieren beziehungsweise für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen. Der von mehreren Seiten bedrängten autonomen Region fehlen hierfür die Ressourcen. Dies schlägt sich auch in den katastrophalen Bedingungen an Orten wie al-Hol nieder.
Die meisten Staaten haben aus Sicherheitsbedenken jedoch wenig Interesse, ihre radikalisierten Bürger und deren Kinder zurückzunehmen. Unter einem Teil der Internierten ist das Gedankengut des IS weiterhin verbreitet. Nicht wenige hoffen auf eine Rückkehr des «Kalifats». Grausame Zwischenfälle, wie das Auffinden zweier geköpfter Mädchen vor zwei Jahren, bekräftigen den schlechten Ruf des Lagers.
Islamistisches Online-Dating
Doch auch ohne offizielle Repatriierungen gibt es Möglichkeiten, aus den Lagern zu entkommen. Die türkische Investigativjournalistin Hale Gönültas hat in der Online-Zeitung «Arti Gercek» kürzlich einen solchen Weg nachgezeichnet.
Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Gönültas beschäftigt sich jedoch seit Jahren intensiv mit dem IS in Syrien. Unter anderem publizierte sie Recherchen über Frauen und Mädchen aus der Minderheit der Jesiden, die vom IS als Sklavinnen verkauft wurden.
Gönültas beschreibt, wie sich auf den sozialen Netzwerken eine Art jihadistisches Online-Dating etabliert habe, über das Witwen getöteter IS-Kämpfer und andere der Terrororganisation nahestehende Frauen mit Islamisten in Drittländern in Kontakt gebracht würden. Ziel sei es, einen Ehepartner zu finden, der die Frauen zu sich hole.
Zahlen dazu gibt es keine. Gönültas schreibt lediglich von einer Zunahme der Fälle. Dass es gelingt, islamistische Lagerinsassen über Landesgrenzen hinweg mit Gleichgesinnten zusammenzubringen, ist angesichts der jüngst wieder verstärkten Aktivitäten des IS auch über das Anekdotische hinaus von Relevanz.
Laut Gönültas’ Schilderungen signalisieren die Frauen mit symbolischen Profilbildern ihre Absichten und persönlichen Umstände. Das Bild eines Löwen bedeute etwa, dass die Frau bereits Kinder habe, für die sie sorgen müsse. Die Ehen werden angeblich unter Zuschaltung eines Imams per Telefon geschlossen.
Danach erhalte die Frau von ihrem Mann Unterstützungszahlungen, die über das traditionelle Hawala-System, aber auch mittels Kryptowährungen geleistet würden. Angesichts der prekären Umstände in den Lagern erhöhten die zusätzlichen Mittel den Status der wiederverheirateten Frauen erheblich. Das Hauptziel bleibe aber, das Lager zu verlassen. Hierfür würden Schlepper engagiert.
25 000 Euro für den Transfer in die Türkei
Gönültas kontaktierte für die Recherche selber einen Schlepper. Sie gab sich als 70-jährigen Mann aus, der kürzlich eine uigurische Frau aus al-Hol geheiratet habe und diese nun in die Türkei und später nach Europa holen wolle.
Den Kontakt zum Schlepper hatte sie von ehemaligen Lagerinsassinnen erhalten, die kürzlich mit seiner Hilfe ausser Landes geschafft worden waren. Für den Transport über die syrische Region Idlib bis zur türkischen Grenzstadt Reyhanli wurde Gönültas ein Preis von 25 000 Euro genannt.
Idlib ist der wichtigste Übergang von Syrien Richtung Türkei. Die Zahl von ehemaligen Bewohnerinnen von Lagern wie al-Hol, die sich nun in der nordwestsyrischen Region aufhalten, soll seit einiger Zeit merklich angestiegen sein.
Allgegenwärtige Korruption
Die dominierende Kraft in Idlib ist das Jihadistenbündnis Hayat Tahrir al-Sham (HTS), das aus dem syrischen Ableger der Kaida hervorgegangen ist. Der von Gönültas kontaktierte Schlepper ist ein usbekischer Kommandant einer jihadistischen Söldnertruppe, die mit HTS zusammenarbeitet.
Trotz gewissen ideologischen Überschneidungen sind HTS und der Islamische Staat keine Verbündete, ganz im Gegenteil. Die beiden jihadistischen Gruppierungen haben sich in der Vergangenheit heftig bekämpft. Der mächtigste Mann in Idlib, der HTS-Chef Abu Muhammad al-Jolani, ist zudem seit geraumer Zeit um mehr internationale Akzeptanz bemüht. In die Nähe des IS gestellt zu werden, liegt nicht in seinem Interesse.
Dareen Khalifa von der Denkfabrik Crisis Group sagt gegenüber dem Nachrichtenportal «Al-Monitor», dass sie eine offizielle Zusammenarbeit der beiden Organisationen beim Menschenschmuggel für unwahrscheinlich halte. Dass die wichtigste Route der IS-Sympathisanten dennoch über Idlib verlaufe, sei vielmehr ein Beleg für die allgegenwärtige Korruption in Syrien. Keine der Gruppen im Bürgerkriegsland sei in der Lage, effektiv die Grenzen ihres Einflussgebiets zu sichern.
Türkei ist ein Drehkreuz für den IS
Indirekt wirft das auch einen Schatten auf Ankara. Die Türkei unterhält eine starke militärische und geheimdienstliche Präsenz im Norden und Nordwesten Syriens. Die Kontakte zu den Machthabern in Idlib sind eng, andere Teile des syrischen Grenzgebiets stehen unter direkter Kontrolle Ankaras. Der türkische Einfluss ist also gross.
Die Türkei spielt im Netzwerk des IS eine wichtige Rolle. Als Brückenstaat zwischen dem Nahen Osten, Zentralasien und Europa dient das Land als wichtiges logistisches Drehkreuz, etwa für Operationen des in letzter Zeit besonders aktiven zentralasiatischen Ablegers der Terrororganisation IS-K.
Zwei der Täter des Anschlags in einer Konzerthalle bei Moskau, bei dem im März mehr als 140 Personen getötet wurden, hatten sich kurz vor der Tat in der Türkei aufgehalten. Das Land ist aber auch selber Ziel von Anschlägen. Im Januar bekannte sich der IS-K zu einem Anschlag in einer katholischen Kirche in Istanbul, bei dem eine Person getötet wurde.