Schaden die geopolitischen Spannungen dem Schweizer Finanzplatz, oder machen sie ihn erst recht attraktiv? Marcel Rohner, der Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung, diskutiert mit dem Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen.
Herr Heusgen, Sie blicken als ehemaliger deutscher Diplomat auf den Schweizer Finanzplatz. Herr Rohner, Sie sind als Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung der Spitzenvertreter der Branche. Was macht der Schweizer Finanzplatz für Sie aus?
Heusgen: Die Schweiz hat sich über Jahrzehnte als Stabilitätsanker in Europa erwiesen. Das ist ein starkes Fundament für einen Finanzplatz. Jetzt gilt es, sich an die neuen Herausforderungen anzupassen.
Rohner: Wir haben einen internationalen Finanzplatz, weil es in der ganzen Welt Menschen gibt, die ihre Vermögenswerte einer Schweizer Bank anvertrauen. Sie wollen sicher sein, dass diese geschützt sind, der Rechtsstaat funktioniert. Auch wenn sich die weltpolitischen Gegebenheiten verändern.
Die Unsicherheit hat zugenommen. Ist das für die Schweiz ein Problem oder eine Chance?
Rohner: Unsicherheit war historisch ein wichtiger Treiber des internationalen Vermögensverwaltungsgeschäfts. Ich denke, das wird so bleiben, aber die Welt ist interdependenter geworden. Auch die Schweiz ist weniger unabhängig als früher. Umso wichtiger ist ein verlässliches politisches System.
Heusgen: Lange liefen Wirtschaft und Politik ganz natürlich im Gleichschritt. Heute ist jedes Unternehmen und jede Bank gut beraten, sich geopolitische Expertise ins Haus zu holen. Denken Sie nur schon an die Energie und den Ukraine-Konflikt oder an die Lieferketten.
Rohner: Ich halte im Übrigen die Frage der globalen Verschuldung für eine grosse, wenn nicht existenzielle Herausforderung des Westens. Für die Schweiz ist das Fluch und Segen zugleich. Wir sind vergleichsweise gering verschuldet, werden dadurch zum sicheren Hafen. Das ist gut für die Vermögensverwaltung, lockt aber auch kurzfristige Gelder an, was den Franken schnell unter enormen Druck setzen kann und die Nationalbank zu Interventionen zwingt.
Geopolitik ist nicht der typische Fokus von Bankern und Ökonomen, oder?
Rohner: Konflikte gab es schon immer. Als Ökonom schaue ich auf die Schwarmintelligenz der Finanzmärkte, um zu verstehen, wie etwas einzuschätzen ist. Die Finanzmärkte sagen im Moment, dass die gegenwärtigen Ereignisse begrenzte Konflikte seien, die das Weltgefüge nicht auseinanderbrechen lassen. Aber seit dem Ukraine-Krieg und der Unterstützung Russlands durch China schwebt die Frage im Raum, ob es zu einem grossen Konflikt zwischen den USA und China kommt und sich dabei die Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen weiter verschärft.
Wir beobachten bereits eine zumindest partielle Deglobalisierung und Entkoppelung eines westlichen Blocks von einem autoritäreren. Inwiefern sollte die schweizerische Finanzbranche darauf reagieren?
Heusgen: Für die Finanzmärkte gilt, was für die Wirtschaft insgesamt stimmt: Wir sind stark mit China integriert und müssen konstatieren, dass der chinesische Präsident Xi Jinping öffentlich verkündet hat, dass er sich Taiwan einverleiben möchte. Banken tun meines Erachtens gut daran, dies im Auge zu behalten und zu diversifizieren.
Rohner: Die wirtschaftliche Verflechtung des Westens mit China ist so gross wie nie. Das unterscheidet die gegenwärtige Situation fundamental vom Kalten Krieg vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es gibt dieses entfernte Szenario, dass es zu einem ausser Kontrolle geratenen grossen Konflikt zwischen den USA und China kommt. Firmen müssen entscheiden, ob sie sich so aufstellen wollen, dass sie selbst dieses sehr unwahrscheinliche Szenario überleben würden. Alle Banken wissen, dass man US-Sanktionen übernehmen muss. In einer fragmentierten Welt würde ich jedem Unternehmen empfehlen: Diversifiziere dich so, dass du jedes Szenario überstehen kannst.
Das wird die verschiedenen Sparten des Finanzplatzes unterschiedlich treffen.
Rohner: Wenn Sie einen Kredit einem Unternehmen geben, das in China zu 80 Prozent exponiert ist, dann ist es wahrscheinlich, dass der Kredit im Konfliktfall nicht zurückbezahlt werden kann. Ob Sie den Kredit geben oder nicht, sollte davon abhängen, welche Stellung er im Gesamtportfolio einnimmt und welche Risiken Sie tragen können. Überhaupt ist ein proaktives Risikomanagement für Schweizer Banken in diesem geopolitisch unsicheren Umfeld unerlässlich. Zu diesem Schluss kommt auch eine aktuelle Studie der Schweizerischen Bankiervereinigung, die wir gerade zum Thema Geopolitik gemacht haben.
Kleinere Konflikte führten in der Vergangenheit häufig dazu, dass Leute ihr Geld in die Schweiz in Sicherheit bringen wollten. Nun aber ziehen sich viele Banken aus Beziehungen mit Kunden aus solchen Ländern zurück. Was meint der Geopolitiker dazu?
Heusgen: Geopolitische Entwicklungen können zu Sanktionen führen. Das müssen Banken in ihre Überlegungen einbeziehen. Wie wir gesehen haben, kann da auch die Schweiz nicht einfach neutral sein.
Die Schweiz hat keine eigene Sanktionspolitik, aber sie kann Sanktionen der EU übernehmen, was sie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine getan hat. Hat das den internationalen Blick auf den sicheren Hafen Schweiz verändert?
Rohner: Teilweise. Die Annahme, dass die Übernahme von Sanktionen nicht mit Neutralität vereinbar sei, ist falsch. Wichtig ist, dass wir berechenbar bleiben.
Wie soll das gehen?
Rohner: Jede Bank, die Dollartransaktionen macht, ist existenziell darauf angewiesen, die amerikanischen Sanktionen zu übernehmen. Jeder Kunde der Welt weiss das. Einer Verletzung des internationalen Völkerrechts mit auf einzelne Personen gerichteten Sanktionen zu begegnen, ist ähnlich wie die Bekämpfung anderer Verbrechen. Das ist kein Verlust von Berechenbarkeit. Aber flächendeckende Sanktionen gegen ein Land, wie etwa dass man von allen Russen kein Geld mehr über 100 000 Euro annehmen darf, sind sehr unwirksam und haben mehr geschadet als genützt. Sie sind rechtsstaatlich fragwürdig. Hier kann und soll die Schweiz eine eigene Neutralitätspolitik formulieren und ihren Spielraum stärker ausnutzen; das würde vom Rest der Welt akzeptiert.
Chinesen und andere Asiaten werfen der Schweiz nun vor, nicht mehr neutral zu sein. Was für eine Rolle kann die Neutralität der Schweiz für die Geschäfte des Finanzplatzes noch spielen?
Heusgen: Für mich sollte Neutralität dort an ihre Grenzen gelangen, wo es darum geht, ob die Schweiz und ihre Banken auf der Seite des internationalen Rechts stehen oder nicht. Wenn die Uno-Charta verletzt und internationales Recht gebrochen wird, kann die Schweiz das nicht ignorieren. Sonst würde sie sich zum Partner der Rechtsbrecher machen. Zur Berechenbarkeit der Schweiz sollte hier eine klare Haltung gehören. Das ist keine Aufgabe, sondern eine Präzisierung der Neutralität.
Neutralität ist nur so lange ein wirksames Mittel zur Wahrung der nationalen und aussenpolitischen Interessen, wie sie von den relevanten Partnern auch akzeptiert wird. Wird sie das noch?
Heusgen: Ich war ja selbst im Sicherheitsrat und habe den Eindruck, dass die Schweizer Neutralität breit verstanden und akzeptiert wird. Die Kritik Russlands an der Schweizer Neutralität sollte man meines Erachtens als Lob verstehen: Die Schweiz ist auf dem Kurs einer modernen Neutralität gut aufgestellt.
Rohner: Neutralität war nie Selbstzweck, es ging immer darum, die Schweiz zu schützen, aus Kriegen herauszuhalten. Das ist essenziell, wenn der Finanzplatz ein Anker der Stabilität sein will. In einer fragmentierten Welt der Blöcke ist es eine fein ziselierte Aufgabe, die Neutralität berechenbar zu leben und als neutral akzeptiert zu werden. Für den Finanzplatz ist es wichtig, dass wir keinem Block angehören.
Veränderungen sind immer auch relativ zu den Wettbewerbern zu betrachten. Banken in Singapur und Hongkong sind amerikanischen Sanktionen ebenfalls ausgesetzt. Dubai positioniert sich erfolgreich als Alternative. Droht die Schweiz ihren Platz als weltweit bedeutendster Markt für Offshore-Vermögensverwaltung an Dubai zu verlieren?
Heusgen: Ich komme aus dem Beamtenmilieu und weiss nicht, wo sehr reiche Leute ihr Geld hinbringen. Aber politisch gesehen scheint mir die schweizerische Aussenpolitik doch sehr viel klüger und langfristiger angelegt als die der Emirate, die sehr viel russisches Geld anlocken und Kriegsverbrecher wie die Rapid Support Forces im Sudan oder den Rebellengeneral Haftar in Libyen unterstützen.
Rohner: Wir sehen, dass Dubai wächst, aber ich erachte das überhaupt nicht als existenzielle Gefahr. Rechtsstaat, Eigentumsschutz und Stabilität können die Emirate nicht so bieten wie wir. Sie können wegen ihrer geopolitischen Lage und Bedeutung darauf zählen, dass bei ihnen andere Massstäbe angesetzt werden. Da wirkt der klassische Opportunismus der amerikanischen Aussenpolitik.
Unter Gleichen haben sich die USA immer schon als etwas gleicher herausgestellt. Fliessen internationale Gelder zunehmend in die USA ab?
Rohner: Ja, das beobachten wir. Mit dieser realpolitischen Gegebenheit können wir aber leben, weil wir ein Topstandort mit Topdienstleistungen sind.
Die USA und die EU diskutieren, wie im Zusammenhang mit dem russischen Krieg in der Ukraine eingefrorene Gelder zur Finanzierung der Ukraine-Hilfe herangezogen werden können. Wie stellen Sie sich dazu?
Rohner: Man kann nicht den Rechtsstaat verteidigen und gleichzeitig das Recht brechen. Eingefrorene Vermögen ohne einen normalen rechtsstaatlichen Prozess zu konfiszieren, ist eine derart fundamentale Verletzung der Rechtsstaatlichkeit, dass sich die Schweiz solchen Bemühungen unbedingt entziehen muss. Wenn wir den Eigentumsschutz preisgeben, geben wir den Rechtsstaat und eigentlich alles preis, wofür der Westen überhaupt steht.
Das scheint man in der EU etwas anders zu sehen.
Heusgen: Nicht unbedingt. Ich sehe keine Mehrheit für eine pauschale Nutzung der eingefrorenen Vermögen zur Unterstützung der Ukraine. Es muss individuell nachgewiesen werden, dass eine Person tatsächlich selbst involviert ist in internationale Verbrechen. Das muss justiziabel sein, dann rechtfertigen sich auch Sanktionen und eine Enteignung.
Rohner: Ich stimme dem zu. Wenn etwas justiziabel ist, dann kann man den ganz normalen Rechtsweg gehen. Damit hat niemand ein Problem.
Um grenzüberschreitend Vermögen verwalten zu können, braucht es Marktzugang. Die Schweiz konnte sich mit der EU bisher nicht auf einen Modus Vivendi einigen. International nimmt der Protektionismus zu.
Heusgen: Die Schweiz ist umgeben von EU-Mitgliedstaaten, da möchte die EU schon, dass mittendrin nicht einfach ein Vakuum ist und man das Verhältnis vertraglich regeln kann. Aber es ist kein Muss für die EU. Umgekehrt glaube ich, dass es für die Schweiz existenziell wichtig ist, mit ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner und grossen Nachbarn EU in eine auskömmliche Beziehung zu kommen. Würde man die Schweiz auf einmal nur als normales Ausland und damit als EU-Aussengrenze betrachten, will ich mir gar nicht ausmalen, was das für Folgen hätte.
Rohner: Leider höre ich von Herrn Heusgen diese europäische Sicht «Für uns wäre es schon auch gut, aber für die Schweiz ist es existenziell, darum diktieren wir die Bedingungen». Das halte ich für wenig konstruktiv. Natürlich möchten wir ein geregeltes Verhältnis mit der EU, aber nicht um jeden Preis. In der Migrationspolitik muss man Lösungen finden, sonst wird ein Abkommen an der Urne keinen Bestand haben. Zudem haben wir der EU das Angebot gemacht, dass eine Bank die EU-Regulierung freiwillig anwenden kann, wenn sie will. Dies ist der institutsspezifische Ansatz für den Marktzugang.
Heusgen: Also ich finde, die Schweiz und die EU sind natürliche Partner, da entspricht es doch dem gesunden Menschenverstand, dass man zusammenkommen muss. Ich hoffe sehr, dass das in den laufenden Verhandlungen gelingt.
Ist die Welt nun gefährlicher, unsicherer und volatiler geworden, oder meinen wir das nur, weil wir darüber besser informiert sind?
Rohner: Wir hatten das Privileg einer kurzen Periode ausserordentlicher Stabilität. Im Rückblick müssen wir uns zugestehen, dass die Erwartung naiv war, dass dies so bleibt. Wahrscheinlich haben wir auch die Verlässlichkeit des internationalen Regelwerks überschätzt. Nun müssen wir ernüchtert feststellen: Wir sind zurück in der historischen Normalität.
Der Banker und der Diplomat
Christoph Heusgen (* 1955) ist seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Er studierte Politikwissenschaften in St. Gallen, Paris und im US-Bundesstaat Georgia. Heusgen trat 1980 in den deutschen diplomatischen Dienst ein. Von 1999 bis 2005 leitete er den politischen Stab von Javier Solana, dem damaligen EU-Vertreter für gemeinsame Aussenpolitik. Danach beriet er Bundeskanzlerin Angela Merkel zu aussen- und sicherheitspolitischen Fragen, bevor er 2017 als ständiger Vertreter der Bundesrepublik zur Uno nach New York wechselte.
Marcel Rohner (* 1964) ist seit 2021 Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte in Ökonometrie an der Universität Zürich. 1993 begann er seine Karriere im Banking beim damaligen Bankverein, der später zur UBS fusionierte. Seit 1999 war er bei der UBS in verschiedenen Führungsfunktionen tätig, von 2007 bis 2009 wirkte er als ihr CEO. Seit 2010 ist Rohner Verwaltungsrat der Genfer Privatbank UBP und hält diverse andere Verwaltungsratsmandate.