Zwei Jahre lang hatte Nordirland keine funktionierende Regierung. Nun hat die pro-britische Democratic Unionist Party ihre Brexit-Blockade aufgegeben – mit Michelle O’Neill wird erstmals eine Nationalistin Regionalpräsidentin.
Für die knapp 1,9 Millionen Nordirinnen und Nordiren ist es eine gute Nachricht: Nach jahrelangen Brexit-Streitigkeiten hat die britische Provinz am Samstag endlich wieder eine Regierung erhalten. Zur Regionalpräsidentin avancierte mit Michelle O’Neill erstmals eine Vertreterin einer pro-irischen Partei, was Beobachter als historischen Moment werteten.
In den vergangenen zwei Jahren hatte die probritische Democratic Unionist Party (DUP) aus Protest gegen das Brexit-Zollregime die Arbeit des Regionalparlaments in Belfast und damit auch die Bildung einer Exekutive torpediert. Die Provinz wurde von Beamten verwaltet. Es konnten keine neuen Gesetze verabschiedet werden, um die dringlichen Probleme anzugehen.
Im Gesundheitswesen stiegen die Wartelisten immer weiter an. Neue Hilfen für Bedürftige blieben trotz markant steigender Lebenshaltungskosten blockiert. Und niemand konnte mit den streikenden Staatsangestellten verhandeln, die wegen der Inflation höhere Löhne verlangten.
Nationalistin als Regionalpräsidentin
Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 zur Beendigung des nordirischen Bürgerkriegs müssen die probritischen Protestanten und die proirischen Katholiken zusammen regieren. Die jeweils grössten Parteien aus beiden Lagern bilden eine Koalition, wobei die wählerstärkere Formation den Regionalpräsidenten und die zweitstärkste den faktisch gleichberechtigten Vize-Präsidenten stellt.
Der Zwang zur Kooperation verlieh der DUP ein Vetorecht, doch rang sich die Führung der Partei im Verlauf der letzten Woche zur Beendigung ihrer Blockade durch. Damit ebnete sie den Weg für die Wahl von O’Neill von der nationalistischen Partei Sinn Fein zur Regionalpräsidentin.
Die DUP-Vertreterin Emma Little-Pengelly wählte das Parlament zur Vizepräsidentin. An der Regierung beteiligen sich auch die konfessionslose Alliance Party sowie die relativ gemässigte Ulster Unionist Party (UUP).
O’Neills Wahl zeigt, wie stark sich Nordirland gewandelt hat. Bei der Teilung Irlands im Jahr 1921 hatten die Briten die Grenzen gezielt rund um protestantische Siedlungen gezogen, um in Nordirland dauerhaft eine probritische Mehrheit zu installieren. Dennoch war mit Sinn Fein, die einst als politischer Arm der terroristischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) galt, bei den Wahlen im Frühling 2022 erstmals eine nationalistische Partei zur stärksten Kraft avanciert.
Rückt irische Einheit näher?
O’Neill verspracht, eine Regionalpräsidentin für die gesamte Bevölkerung zu sein. Doch hatte sie in den letzten Tagen auch erklärt, das Ziel der Nationalisten eines vereinigten Irlands rücke nun in «Griffnähe».
Die Aussage ist stark übertrieben. Denn ein Referendum über eine Vereinigung von Irland und Nordirland müsste gemäss dem Karfreitagsabkommen der zuständige britische Minister in London einberufen, wenn in Nordirland eine Bevölkerungsmehrheit dafür greifbar ist. Laut einer neuen Umfrage würden derzeit 51 Prozent der Nordiren gegen und nur 30 Prozent für die irische Einheit stimmen.
Dennoch ist der Aufstieg O’Neills zur Regionalpräsidentin nicht nur symbolisch wichtig. Sinn Fein könnte bald auch in der irischen Republik zur stärksten Partei avancieren. Sässe sie sowohl in Dublin als auch in Belfast an den Schalthebeln der Macht, dürfte Sinn Fein versuchen, mit grenzüberschreitenden Projekten der irischen Einheit den Weg zu ebnen.
Oberstes Ziel der DUP ist es hingegen, den Platz Nordirlands im Vereinigten Königreich langfristig zu sichern. Umso unverständlicher war, dass die Partei beim Referendum von 2016 den Brexit unterstützte, da die Probleme für den Status Nordirlands von Anfang an absehbar waren.
2019 lehnte die DUP Theresa Mays weichen Brexit ab und diente sich Boris Johnson an. Da die EU Zollkontrollen an der Landgrenze zwischen Irland und Nordirland kategorisch ablehnte, beliess Johnson Nordirland faktisch im EU-Binnenmarkt. Dies machte den Aufbau von Handelshürden zum restlichen Vereinigten Königreich nötig.
Seither opponierte die DUP gegen die Brexit-Zollkontrollen in der Irischen See. Premierminister Rishi Sunak rang der EU 2023 im Windsor-Abkommen Konzessionen ab, um die Kontrollen zu entschärfen. Doch die DUP verlangte die absolute Gleichberechtigung Nordirlands mit den anderen Nationen des Vereinigten Königreichs, weshalb sie die Bildung einer Regionalregierung weiter torpedierte.
Riskante Kehrtwende der DUP
Die grosse Kehrtwende erfolgte letzte Woche. Die britische Regierung legte nach diskreter Absprache mit Brüssel gewisse Garantien zur weiteren Reduktion der Kontrollen vor sowie Gesetze zur Stellung Nordirlands im Vereinigten Königreich. Zudem soll die Provinz mehr Geld aus London erhalten.
Doch die Zollgrenze verschwindet ebenso wenig wie die Sonderstellung Nordirlands. Und manche Brexit-Hardliner wie Boris Johnson befürchten, Grossbritannien werde sich auf Dauer an EU-Regulierungen orientieren müssen, um neue Handelshürden zu Nordirland zu verhindern.
Die plötzliche Kompromissbereitschaft von DUP-Präsident Jeffrey Donaldson ist der Einsicht geschuldet, dass sich die Brexit-Realität drei Jahre nach dem Vollzug des EU-Austritts nicht mehr grundlegend ändern lässt. Radikalere Unionisten innerhalb und ausserhalb der DUP bezichtigen Donaldson nun in harschen Anfeindungen des Verrats.
Die Unionisten sind gespalten. Denkbar ist, dass Donaldson ein ähnliches Schicksal blüht wie dem grossen Unionisten David Trimble. Dieser hatte 1998 gegen interne Widerstände dem Karfreitagsabkommen zugestimmt und das Ende des Bürgerkriegs ermöglicht, wurde dafür aber von seiner Wählerbasis bestraft.