Sertac Kayar / Reuters
Die Aussicht auf ein Ende des bewaffneten Konflikts weckt Hoffnungen im kurdischen Südosten der Türkei. Die Erwartung, dass sich tiefgreifend etwas verändert, ist allerdings gering.
Es ist noch kalt in Diyarbakir, aber die ersten Bäume blühen bereits. Die rosa und weissen Knospen bringen Farbe ins Strassenbild der südostanatolischen Millionenstadt. Ihre Aussenbezirke sind – wie in allen schnell wachsenden Städten der Türkei – von einförmigen Wohnhäusern und sehr viel Beton geprägt.
Auch der breite Boulevard, der zum grossen Festgelände im Süden der Stadt führt, ist von blühenden Bäumen gesäumt. Fliegende Händler verkaufen Köfte, gebratene Fleischbällchen, sowie Bänder und Tücher in den kurdischen Nationalfarben Rot, Weiss und Grün.
Der Frühling steht vor der Tür und damit das Neujahrsfest Newroz. Eigentlich bedeutet der Begriff «Neuer Tag». Das Fest an der Tagundnachtgleiche im März steht aber vor allem für den Anfang eines neuen Jahreskreises. Wie in Iran und weiten Teilen Zentralasiens beginnt auch bei den Kurden mit dem Frühling das neue Jahr.
Das Ende eines jahrzehntelangen Konflikts?
Die Symbolik des Neuanfangs wiegt an diesem Newroz-Fest besonders schwer, vor allem hier in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der türkischen Kurden. Ende Februar hatte der inhaftierte Gründer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, seine Organisation aufgefordert, die Waffen niederzulegen und sich aufzulösen. Diesen Freitag liess die PKK bekanntgeben, dass sie an einem Kongress «historische Entscheidungen» getroffen habe. Ob damit die Selbstauflösung gemeint ist, bleibt vorerst unbekannt.
Öcalans Aufruf und nun die jüngsten Verlautbarungen der PKK markieren den vorläufigen Höhepunkt eines mehrmonatigen Prozesses der Annäherung zwischen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan und der kurdischen Bewegung im Land. Nach Jahren der Repression war Erdogans Koalitionspartner, der Ultranationalist Devlet Bahceli, im Oktober unverhofft auf kurdische Politiker im Parlament zugegangen und hatte Gesten des guten Willens in Aussicht gestellt.
Es gab Verhandlungen, Gespräche, Besuche auf Öcalans Gefängnisinsel, erste Zugeständnisse in Form von verbesserten Haftbedingungen und nun schliesslich Öcalans Appell an seine Gefolgsleute. Ist damit das Ende eines Konflikts, der in vier Jahrzehnten mehr als 40 000 Menschenleben gefordert hatte, in Griffweite gerückt?
Kriminalisierung der kurdischen Bewegung
«Es ist ein besonderes Newroz-Fest, sicherlich», sagt Dogan Hatun mit Blick auf die Annäherung vorsichtig. Hatun ist einer der beiden Co-Bürgermeister von Diyarbakir. Die prokurdische DEM-Partei besetzt alle politischen Ämter paritätisch mit einem Mann und einer Frau. «Newroz steht nicht nur für das neue Jahr, sondern auch für Frieden – und für unsere Selbstbehauptung.» Zum Gespräch trifft uns der Politiker im kurdischen Kulturzentrum seiner Stadt.
Hatun ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen und hat erst mit zehn Jahren Türkisch gelernt. Das Dorf steht nicht mehr. Wie viele Siedlungen im Südosten der Türkei wurde es im Krieg zwischen der PKK und der türkischen Armee zerstört. Hatun darf das Land nicht verlassen, weil ein Prozess gegen ihn läuft. Was ihm konkret vorgeworfen wird, ist nicht ganz klar. Der Prozess stützt sich auf Aussagen eines anonymen Zeugen.
Das ist keine ungewöhnliche Situation für einen kurdischen Politiker in der Türkei. Über vielen schwebt das Damoklesschwert eines Gerichtsverfahrens wegen eines wie auch immer gearteten Vorwurfs, den Terrorismus zu unterstützen. Vor einigen Jahren gab es im türkischen Parlament keinen einzigen Abgeordneten der DEM beziehungsweise ihrer Vorgängerpartei, gegen den kein Verfahren lief.
«Die PKK dient der Regierung seit Jahren als Vorwand, um jedes Eintreten für kurdische Rechte zu kriminalisieren», sagt Hatun. Wegen Anschlägen, die oft auch viele zivile Opfer forderten, gilt die marxistisch-leninistische PKK nicht nur in der Türkei, sondern auch in vielen westlichen Staaten als Terrororganisation. «Ohne sie wird es für uns einfacher. Doch die Regierung muss beweisen, dass sie es mit dem Friedensprozess auch ernst meint.»
Nicht aufgearbeitete Vergangenheit
Das Vertrauen in die Regierung ist gering, besonders dort, wo die Wunden sehr tief sind. Mustafa und Fahriye Cukur haben 2016 ihre Tochter Rozerin verloren. Die 16-jährige Jugendliche war auf dem Weg zur Schule, als sie von einem Scharfschützen der Armee erschossen wurde.
Jugendverbände der PKK hatten nach dem Scheitern des letzten Friedensprozesses 2015 erstmals den Kampf von den Dörfern in die Städte getragen. In Diyarbakir lieferten sich die jugendlichen Kämpfer, verschanzt hinter Strassenbarrikaden, heftige Gefechte mit der Armee. Bis heute sind die Spuren im Stadtbild zu sehen. In einem besonders stark zerstörten Viertel der Altstadt gibt es statt enger Gassen mit alten Häusern nun eine Flaniermeile mit gesichtslosen Neubauten.
Rozerin wurde in der Nähe einer solchen Barrikade getötet, weil sie angeblich den Aufständischen zuarbeitete. Beweise für eine Verbindung des Mädchens zur PKK hat die Regierung allerdings nie vorgelegt. Der Leichnam wurde erst nach Monaten freigegeben. Der Vater Mustafa prangerte die Regierung öffentlich dafür an. Er wurde mit Strafverfahren eingedeckt.
«Bevor ich an irgendeine Veränderung glaube, will ich konkrete Massnahmen sehen», sagt Mustafa. «Wir wollen gleiche Rechte und eine Aufarbeitung der Vergangenheit.» Doch stattdessen fliege die türkische Armee jeden Tag aus Diyarbakir Einsätze gegen kurdische Gebiete in Syrien. «So schafft man kein Vertrauen.»
In der Türkei sind schätzungsweise 15 Millionen Menschen kurdischer Herkunft. Viele von ihnen sehen sich nicht als gleichberechtigte Bürger ihres Landes. Anders als die kleinen armenischen, griechischen und jüdischen Gemeinden haben sie keine verbrieften Minderheitenrechte. Zwar sind im Südosten einige offizielle Gebäude zweisprachig angeschrieben, und man stösst in Diyarbakir auch auf den kurdischen Namen der Stadt, Amed. Muttersprachlichen Unterricht gibt es aber nicht.
Das Neujahrsfest ist stark politisiert
Im Verlauf des Tages treffen auf dem grossen Festplatz von Diyarbakir immer mehr Menschen ein. Am Ende werden es Zehntausende sein, vielleicht sogar hunderttausend. Viele tragen traditionelle Gewänder oder andere festliche Kleidung, einige aber auch feldgrüne Overalls. Nicht zuletzt dank ihrer Ästhetik der Revolution verfügt die kurdische Bewegung auch in links bewegten Kreisen im Westen über eine grosse Anschlussfähigkeit.
Dreimal müssen sich die Besucher einer Leibesvisitation durch die türkische Polizei unterziehen, bevor sie auf das Gelände vorgelassen werden. Feuerzeuge und selbst Kugelschreiber sind aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt, separatistische Symbole wie die Flagge Kurdistans, das rot-weiss-grüne Banner mit dem gelben Stern, oder Insignien der PKK erst recht nicht. Dennoch gelingt es einigen jungen Männern, ein Transparent mit dem Aufdruck eines Bildes von Öcalan hineinzuschmuggeln und vor der Bühne zu entfalten. Es ist politisches Statement und Mutprobe zugleich.
Newroz wird seit Jahrtausenden gefeiert. Ein grosses Feuer ist seit je ein fester Bestandteil der Feierlichkeiten. Auf dem Festplatz in Diyarbakir steht dafür eine spezielle Vorrichtung mit integrierter Feuerschale. Darin ist ein hoher Scheiterhaufen aufgetürmt, der am späteren Nachmittag entfacht wird.
Die mythologischen Bezugspunkte für diese Tradition sind wegen des Konflikts jedoch in den Hintergrund getreten. Auch private Bräuche im Kreis der Familie spielen eine untergeordnete Rolle. Gerade weil das Fest in der Türkei lange gar nicht offen begangen werden durfte, ist es stark politisiert. Im Vordergrund steht die kulturelle und politische Selbstbehauptung, mit Reden, Musik und dem obligaten Halay, einem traditionellen Tanz.
Dervis ist mit seiner Frau zum Fest gekommen. Um die Stirn trägt er ein Band in den nationalen Farben, in der Hand hält er ein Bild von Selahattin Demirtas. Demirtas war Co-Vorsitzender der grössten kurdischen Partei der Türkei und ist einer der bekanntesten politischen Häftlinge des Landes. Obwohl der Europäische Menschenrechtsgerichtshof mehrmals seine Freilassung gefordert hat, sitzt er seit 2016 in Haft.
«Solange sie ihn nicht freilassen, kann von einem Friedensprozess nicht die Rede sein», sagt Dervis bestimmt.
Reformen und Rechtsstaatlichkeit
«Die Regierung reduziert den Prozess auf die Auflösung der PKK», erklärt Cuma Cicek. Der Politologe aus Diyarbakir beschäftigt sich seit Jahren mit dem Kurdenkonflikt. Die Bevölkerung unterstützt laut Cicek das Ende des bewaffneten Kampfes, der aufgrund der Überlegenheit der türkischen Streitkräfte ohnehin aussichtslos sei. Alle wünschten sich, dass Flüchtlinge und ehemalige Kämpfer im Rahmen einer Amnestie zurückkehren könnten.
«Doch die Kurdenfrage ist breiter als der bewaffnete Kampf. Für eine wirkliche Befriedung und Aussöhnung brauchen wir demokratische Reformen und eine Stärkung des Rechtsstaats.» Davon sei jedoch nichts zu sehen. Im Gegenteil: Die Regierung enthebe weiterhin gewählte Politiker ihrer Ämter und ersetze sie durch Statthalter.
In den kurdischen Gebieten hat man viel Erfahrung mit dieser Praxis. Nach den Lokalwahlen 2019 wurden innerhalb von zwei Jahren in allen grösseren Städten mit prokurdischen Bürgermeistern Statthalter eingesetzt. «Neu ist, dass dies nun auch in anderen Teilen der Türkei geschieht», sagt Cicek.
Imamoglus Verhaftung gibt auch im Südosten zu reden
In diesem Zusammenhang trifft die Kurdenfrage auf das andere grosse Thema der türkischen Tagespolitik: die immer stärkere Repression gegen die säkulare Opposition und, als Höhepunkt dieser Entwicklung, die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu. Der populäre Oppositionspolitiker wurde nur zwei Tage vor dem Newroz-Fest in Polizeigewahrsam genommen.
Imamoglus offensichtlich politisch motivierte Verhaftung ist auch in Diyarbakir Tagesgespräch. In die Empörung über das unverfrorene Vorgehen gegen den aussichtsreichsten Konkurrenten des Staatschefs Recep Tayyip Erdogan mischt sich dabei eine leise Genugtuung und, wenn nicht das, so zumindest eine spürbare Erleichterung, dass für einmal nicht die Kurden im Visier der machtpolitischen Willkür der Regierung stehen.
«Die Menschen in Istanbul erleben nun, was wir seit Jahrzehnten kennen», sagt Mustafa Cukur, der Vater der getöteten Rozerin. Dabei schwingt ein leichter Vorwurf mit. Die kemalistische Opposition, zu der Imamoglu gehört, hatte das repressive Vorgehen der Regierung gegen die demokratische kurdische Bewegung aus Rücksicht auf nationalistische Wählerschichten lange nur verhalten kritisiert.
Ein machtpolitisches Manöver?
Manche sehen im Verhältnis zwischen den Kemalisten und dem kurdischen Lager sogar eines der Hauptmotive für den gegenwärtigen Prozess. Eine geeinte Front der Regierungsgegner ist gefährlich für Erdogan. Tatsächlich wären die grossen Erfolge der Opposition bei den Lokalwahlen 2019 und erneut im vergangenen Jahr ohne die Absprachen mit den Kurden nicht möglich gewesen.
Nur weil die kurdischen Parteien ausserhalb ihrer Stammlande darauf verzichteten, eigene Kandidaten aufzustellen, und stattdessen zur Wahl des Oppositionsbündnisses aufriefen, konnte sich dieses fast überall gegen das Regierungslager durchsetzen.
«Erdogan ist die Zusammenarbeit seiner Gegner schon lange ein Dorn im Auge», sagt Reha Ruhavioglu vom Zentrum für kurdische Studien in Diyarbakir. «Deshalb versucht er, sie gegeneinander aufzubringen oder zumindest eine Solidarisierung zu verhindern.» Dass Imamoglu in der Woche des Newroz-Fests verhaftet worden sei, passe ins Bild.
Tatsächlich gab es böses Blut, als die Kurden ungestört feiern durften, während Imamoglus Anhänger auf die Strasse gingen und heftiger Polizeigewalt ausgesetzt waren. Die Regierung hatte in Istanbul alle Kundgebungen verboten, mit einer Ausnahme: den Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahr.
«Erdogan wird die Anhänger der kurdischen Bewegung nie dazu kriegen, ihm ihre Stimme zu geben», sagt Ruhavioglu. Aber durch den gegenwärtigen Prozess schaffe er Anreize, dass sich die Kurden vermehrt auf regionale, kurdische Belange konzentrierten. Die Zusammenarbeit mit Oppositionsparteien wie der CHP verliere dadurch an Bedeutung.
«Die Kurden können mit gewissen Zugeständnissen rechnen, und Erdogan stärkt seine Machtposition. Tiefgreifende Veränderungen sind vor diesem Hintergrund aber nicht zu erwarten.» Ob Erdogans Kalkül aufgehe, sei zu diesem Zeitpunkt schwer abzusehen, sagt Ruhavioglu. Aber es erkläre vieles, was zurzeit passiere.
Ungewisse Zukunft
Auf dem Festplatz ist die Musik noch nicht verstummt, noch immer werden Reden gehalten. Doch das grosse Feuer ist abgebrannt, vereinzelt steigen Rauchschwaden aus der Asche empor. Die ersten Besucher verlassen das Gelände und machen sich auf den Heimweg. Das neue Jahr hat begonnen.
Abschied vom Bosporus
nbe. Mit diesem Artikel verabschiedet sich Volker Pabst (pab.) nicht nur von der Türkei, sondern auch von mehreren Ländern Südosteuropas. Seit Sommer 2018 hat er über Griechenland, Zypern, Rumänien, Bulgarien, die Moldau, den Westbalkan sowie die Türkei berichtet und diese Länder regelmässig bereist. Nun verlegt er seinen Standort von Istanbul nach Berlin und Warschau. Fortan wird pab. über Polen, die Ukraine, Rumänien und die Moldau berichten. Seine Nachfolge in der Türkei übernimmt Nicole Anliker.