Das Ei hat’s nicht leicht: Veganismus und hoher Cholesteringehalt hier, unüberschaubare Intoleranzen dort. Doch wer es verteufelt, verpasst nicht nur den Geschmack, sondern eine der besten Proteinquellen überhaupt, findet unser Autor.
Neulich im Tram. Vor mir zwei aufwendig zurechtgemachte Damen, alters- und faltenlos, mit Hündchen – noch magerer als ihre Herrinnen – auf den Knien. Ich höre normalerweise nicht in anderer Leute Konversationen hinein. Ausser es geht um Essen. Das Thema der beiden: Intoleranzen. Die eine erzählt von der Tochter einer Bekannten – das Kind hat offenbar eine Eier-Unverträglichkeit – und betitelt die Kleine als furchtbare Diva. Ich spitze die Ohren und mische mich ein. «Menschen, die keine Eier essen dürfen, sind zu bedauern, nicht zu beschimpfen! Gibt es denn grössere kulinarische Wunderwerke als Hühnereier?»
Nur schwer ersetzbar in der Küche
Was wäre die Welt ohne Eier? Einmal abgesehen davon, dass sie unabdingbar für den Fortbestand der Arten sind, rede ich von ihrer kulinarischen Bedeutung. Kaum ein Lebensmittel hat einen derartigen Einfluss auf Rezepte und Essensgewohnheiten. Und da das Huhn sich über die ganze Welt als eine der am einfachsten zu domestizierenden Arten verbreitet hat, sind auch Eier in praktisch jeder Landesküche ein gern und oft gesehener Gast. Was wären Kuchen, Desserts und Crèmes ohne Ei? Die Mayonnaise gäbe es genauso wenig wie Meringue und Pawlowas. Frühstücken ohne Rühr-, Spiegel-, weich oder hart gekochtes oder pochiertes Ei, zur Omelette gerührt oder gar roh, in vielen Ländern undenkbar. Wir Schweizer mit unserer Café-complet-Kultur sind da eher die Ausnahme.
Eier sind überall erhältlich, selbst diejenigen von Bauern, die sich eine hohe ethische Barriere in Sachen Tierhaltung setzen, kosten nicht die Welt. Obwohl die Schale nur viermal dicker als ein Menschenhaar ist, können Eier wochenlang aufbewahrt werden, auch ohne Kühlung. Am besten sind sie jedoch vom dritten Tag an, für weitere etwa zehn Tage. Danach verliert das Innere an Geschmack und Geschmeidigkeit. Die einfachste Methode für den Frische-Check: Eier in kaltes Wasser legen. Bleiben sie am Gefässboden aufrecht stehen oder schwimmen sogar an der Oberfläche, ist das Ei mindestens zwei Wochen alt. Frische Eier bleiben unten der Länge nach liegen.
Die Vegan-Fraktion ist mit meinem Loblied auf das Ei natürlich nicht einverstanden. Ja, es gibt sie, die Behelfsmittel. Statt Eiweiss die Flüssigkeit aus eingedosten Kichererbsen, Aquafaba. Statt Eigelb zerdrückte Bananen, Kürbis- oder Avocadomus, Seidentofu. Bitte sehr, ich hindere niemanden daran. Dann aber die Erwartungen an das, was damit gebacken, gekocht oder gerührt wird, nicht zu hoch halten.
Der gesundheitliche Aspekt? Miesepeter verweisen auf den hohen Cholesteringehalt. Und verschweigen gerne, dass es keine bessere Proteinquelle gibt, nicht zu reden von wertvollen Mineralstoffen wie Kalzium, Eisen und Zink. Auch mit Vitaminen sind die weissen oder braunen Granaten reich gesegnet. Es ist wie bei viel anderem, was Spass macht, immer eine Frage der Menge und wie man mit Bewegung und der restlichen Ernährung dagegenhält. Mein Arzt betitelt meinen unterirdisch tiefen Cholesterinwert jeweils als medizinisches Wunder, obwohl ich, seit ich zurückdenken kann, fast täglich Eier in die Pfanne, ins Wasser, in Crèmes und Saucen, in Teige und in Glace schlage.
Die hohe Kunst des Eierns
Obwohl auch ein simples Spiegelei schon die allermeisten kochenden Menschen überfordert, ist die Scheiterrate bei der Königsdisziplin der Eierzubereitung, dem Pochieren, noch höher. Auch ich arbeitete mich unzählige Male daran ab. Ein rohes Ei aus seiner Schale in mit Essig gewürztes und ins Strudeln gebrachtes, leicht kochendes Wasser gleiten zu lassen, ist das eine. Es nach wenigen Minuten wieder herauszufischen, idealerweise immer noch fast in der ursprünglichen Form und das gelbe Innere dazu in dieser perfekt zähflüssigen Konsistenz, wie man sie nur auf Instagram entdeckt, das steht auf einem anderen Blatt.
Seit meinen ersten kulinarischen Studien in Japans Restaurants sind meine Pochier-Sorgen Schnee von gestern. Vor allem Ramen – die würzigen Nudelsuppen in tausend Variationen – verlangen nach einem schmelzenden, mollig-weichen Ei, das in den unzähligen Ramen-Bars jederzeit als Topping in dieser Konsistenz verfügbar sein muss. Dazu wurde das Onsen-Tamago erfunden. Eier wurden für eine Stunde in heisse Quellen (Onsen) bei einer Temperatur zwischen 62 und 69 °C gelegt. Dabei gerinnen Eiweiss wie Eigelb nur leicht und erhalten dank der langen Garzeit eine überall im Ei gleichmässige, wachsweiche Konsistenz. Da die Gerinnungstemperatur von Eigelb rund 65 °C beträgt, ergeben sich einige Grad über oder unter diesem Mass markante Unterschiede am gegarten Onsen-Ei. Die persönliche Vorliebe soll entscheiden. Meine garen bei 63 °C eine Stunde.
Nicht nur die grossartige Konsistenz begeistert mich an dieser Methode. So zubereitete Eier können zudem problemlos eine Woche im Kühlschrank aufbewahrt werden. Um sie wieder zu wärmen – zum Beispiel für das untenstehende Gericht Cilbir, die wunderbaren türkischen Eier –, genügt ein zwanzigminütiges Bad im etwa 65 °C heissen Wasser, etwa gleich lang, wie die Pochier-Lotterie eines frischen Eis dauert. Mit dem Unterschied, dass es immer klappt.
Für zwei Personen schmelzen Sie 80 Gramm Butter und lassen einen Esslöffel Aleppo-Chiliflocken oder Piment d’Espelette hineinschneien. Zwei Portionen griechisches Joghurt mit einer geriebenen Knoblauchzehe, Zitronensaft und Salz würzen und in Teller verteilen. Onsen-Eier vorsichtig schälen und auf das Joghurt legen. Die warme Chilibutter darüber verteilen und nach Belieben mit gehackter Minze und Koriander bestreuen. Mit getoastetem Weissbrot oder Fladenbrot servieren.
Im Tram tauschen die beiden Damen vor mir einen Blick, aus dem ich herauslese, dass sie mich in dieselbe Kategorie einstufen wie das bedauernswerte Mädchen, das keine Eier essen mag. Ich lächle mein Demi-Lächeln, das echte spare ich mir für das auf, was ich wirklich lustig finde. Mit einem verächtlichen Schnaufen wechseln die beiden den Platz, ihre dürren Hündchen ziehen sie wie Staubsauger hinter sich her.
RICHARD KÄGI ist Autor und Foodscout, schreibt Kochbücher und Kolumnen. Sein Kater Alfred ist das Gegenteil von dürr. Rezepte veröffentlicht er auf homemade.ch und richardkaegi.ch. Instagram @richifoodscout