Fast drei Viertel der Befragten einer explorativen Studie erleben Gewalt durch Freier. Belastbare Daten zu Gewalt an Sexarbeiterinnen gibt es bis jetzt aber kaum.
«Er hat mich brutal misshandelt, er war während des Geschlechtsverkehrs sehr gewalttätig, und ich konnte nur warten, bis es vorbei war.» Das sind die Worte einer anonymen Sexarbeiterin aus der Schweiz. Misshandlungen, Schläge und ungeschützter Sex: Frauen im Sexgewerbe erfahren immer wieder Gewalt – auch hierzulande.
Darauf deutet eine explorative Studie von Procore hin, einer Schweizer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern einsetzt. 70 Prozent der Befragten haben sexualisierte Gewalt erlebt. Die Studie beruht auf den Aussagen von 24 Sexarbeiterinnen in der Schweiz und ist damit nicht repräsentativ.
An der Studie nahmen 22 Frauen und 2 Transfrauen im Alter von 28 bis 63 Jahren teil. Die meisten haben nach Angaben von Procore einen Migrationshintergrund, arbeiten grösstenteils legal und haben mehr als drei Jahre Berufserfahrung in der Sexarbeit. Schweizer Nichtregierungsorganisationen gehen davon aus, dass hierzulande etwa 75 Prozent der Frauen im Sexgewerbe Migrantinnen sind.
Häufige Erlebnisse von sexualisierter Gewalt
Fast drei Viertel der Befragten berichten in der Studie von sogenanntem Stealthing – dem Entfernen des Kondoms gegen ihren Willen. Eine Tat, die in der Schweiz strafrechtlich verfolgt werden kann. Verbale und physische Bedrohungen sowie die nicht einvernehmliche Entfernung des Kondoms erlebten die Befragten laut Procore «mehrfach bis sehr häufig».
Mehr als ein Drittel der Frauen geben in der Studie an, Formen physischer Gewalt wie Ohrfeigen oder Fausthiebe erlebt zu haben. «Einmal wurden mir K.-o.- Tropfen in mein Getränk gemischt. Ich wurde bewusstlos, wachte nackt in einem Zimmer auf und konnte mich an nichts erinnern», zitiert Procore eine der Frauen.
Die Hälfte der Befragten fühlt sich von ihren Kunden diskriminiert, herabgewürdigt und beleidigt. Fast ein Drittel der Sexarbeiterinnen werden nach eigenen Angaben in ihrem Privatleben belästigt, mehr als ein Drittel online.
Dürftige Datenlage zu Sexarbeit in der Schweiz
Wie viele Frauen tatsächlich von Gewalt in der Sexarbeit betroffen sind, ist unklar. Erhebungen dazu gibt es kaum, häufig berufen sich selbst Organisationen wie die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) auf Schätzungen. Diese spricht von 350 000 Schweizern, die mindestens einmal pro Jahr Freier sind – also fast jeder fünfte Mann zwischen 20 und 65 Jahren. Expertinnen und Experten schätzen, dass in der Schweiz 4000 bis 8000 Personen im Erotikgewerbe arbeiten. Andere wiederum gehen von 13 000 bis 20 000 aus.
Das Geschäft mit dem Sex ist lukrativ. Zwischen einer halben und einer Milliarde Franken werden laut Schätzungen jährlich im Schweizer Sexgewerbe umgesetzt. Der Grossteil landet bei den Betreibern von Bordellen und Internetplattformen.
Debatte um Kriminalisierung von Freiern
Prostitution ist in der Schweiz legal. Frauen ist sie seit 1942 erlaubt, Männern erst seit 1992. Wegen des Potenzials von Gewalt gegen Sexarbeiter wird jedoch immer wieder über eine Kriminalisierung diskutiert.
Wie viele Taten von Sexarbeiterinnen zur Anzeige gebracht werden, ist unklar. Die Statistiken des Bundes erfassen Fälle sexualisierter Gewalt nicht nach dem Status der Betroffenen. Die Studie von Procore deutet jedoch darauf hin, dass nur wenige Sexarbeiterinnen Anzeige erstatten.
Laut der Studie wandte sich nur etwa ein Drittel an die Polizei. Manche geben an, eigene Strategien für den Umgang mit Gewalt entwickelt zu haben. Manche Frauenschutzorganisationen fürchten jedoch, dass äussere Zwänge Betroffene an einer Anzeige hindern könnten. Dazu zählt, dass sich viele der Frauen illegal in der Schweiz aufhalten. Sie haben Angst vor einer Ausschaffung. Andere glauben nicht daran, vor Gericht recht zu bekommen.
Die Zürcher Frauenzentrale argumentiert, dass es unmöglich sei, zwischen selbstbestimmter Sexarbeit und Zwangsprostitution oder Prostitution aus Armut zu unterscheiden. Sie fordert deshalb die Einführung des sogenannten Nordischen Modells: Dieses sieht vor, Freier zu bestrafen, nicht aber die Sexarbeiterinnen. So wird es etwa in Frankreich oder Schweden praktiziert. Das Argument: In solchen Ländern gehe die Gewalt an Sexarbeiterinnen zurück.
Organisationen wie Procore und die FIZ beurteilen das anders. Ein Sexkaufverbot erhöhe das Risiko für Sexarbeiterinnen, ausgebeutet oder Opfer einer Gewalttat zu werden, argumentieren sie. Procore fordert, die Sexarbeit nicht zu kriminalisieren und auch kein Verbot des Kaufs sexueller Dienstleistungen einzurichten.
Stattdessen sei es notwendig aus Sicht von Procore, diskriminierende bürokratische Hürden für legale Sexarbeit abzubauen. Zudem müsste Frauen, die sich illegal im Land aufhielten, die Möglichkeit gegeben werden, Gewaltdelikte in ihrer Sexarbeit zur Anzeige zu bringen, ohne ausländerrechtlich belangt zu werden.