Schuldenrekord, Reformstau, politische Blockade: Frankreich im neuen Jahr verzagt an sich selbst. Vor allem auf dem Land sind die Menschen enttäuscht von ihrem Präsidenten und hoffen auf Le Pen.
In der alten Mühle von Donzy, am ruhigen Flüsschen Nohain, geht es sehr gemächlich zu. Gedämpftes Winterlicht dringt durch die staubigen Fenster. Es fällt auf einen grossen Mahlstein in der Mitte des Raumes. Frédéric Coudray setzt die wuchtige, zwei Tonnen schwere Scheibe in Bewegung, und ein erdiger Geruch verteilt sich im Raum. Walnüsse und Haselnüsse werden in der traditionsreichen Huilerie du Moulin de l’Île erst zerkleinert, dann in einem Bottich geröstet und schliesslich zu feinem Öl gepresst.
«Manche Leute, die mir ihre Nüsse zur Verarbeitung bringen, setzen sich auf eine Bank und schauen einfach zu, wie die Mühle arbeitet. Das ist wie Meditation», sagt Coudray. «Diese Leute gehen nicht ins Internet. Die wollen nichts wissen von Kryptowährungen, die suchen auch keine Pokémons.»
Politisches Testgelände
Willkommen in Donzy, dem «Schlussstein von Frankreich». Frédéric Coudray, ein 56-jähriger Unternehmer, Philosoph, Produzent von Nussöl und Stopfleber, hat sich den Begriff ausgedacht. «Wir sind wie der letzte Stein im Gewölbe», erklärt er. «Wenn Sie ihn entfernen, stürzt das Gebäude ein.»
Der fröhliche, grauhaarige Burgunder liebt seine 200 Jahre alte Mühle, in der die Zeit stehengeblieben ist. Er züchtet auch Enten und Gänse auf seinen Wiesen, «solange das nicht verboten wird!» Er führt Gourmets und Touristen durch sein Dorf. Und gelegentlich spricht er mit Journalisten, die hoffen, in Donzy etwas Besonderes über Frankreich zu erfahren. «Al-Jazeera, BBC, ZDF, die waren alle schon einmal hier im tiefen Frankreich, ich habe noch ihre Telefonnummern», sagt er und grinst.
Tiefes Frankreich, «la France profonde», das ist eine Bezeichnung, die Coudray für seinen Wohnort akzeptieren kann, wenn er die Schönheit des Hinterlandes und nicht das angebliche Hinterwäldlertum seiner Bewohner beschreibt.
Über Jahrzehnte stand sein Dorf in der Region Bourgogne-Franche-Comté, zweieinhalb Autostunden südlich von Paris, im Ruf, bei Präsidentschaftswahlen genau so abzustimmen wie das ganze Land. Politische Beobachter reisten deswegen aus aller Welt in den 1600-Einwohner-Ort, wo die Wahlergebnisse oft bis aufs Hundertstelprozent den nationalen Ergebnissen glichen.
Manche erklärten sich das mit der ökonomischen Struktur der Gemeinde. Denn in Donzy gibt es Land- und Forstwirtschaft, aber auch drei kleine Fabriken, von denen eine heute ökologisch abbaubare Strohhalme für den Weltmarkt produziert. Das von Getreidefeldern und Jagdwäldern umgebene Dorf wählte abwechselnd konservative und sozialistische Bürgermeister.
Coudray erinnert sich gut, wie der ehemalige Präsident François Mitterrand in den 1980er Jahren mehrmals mit dem Helikopter auf dem örtlichen Fussballplatz landete, «um den Puls von Frankreich zu spüren». Aber spätestens im Jahr 2017, als der Newcomer Emmanuel Macron Präsident wurde, stimmte die Geschichte mit dem Wahlbarometer nicht mehr so ganz. Zum ersten Mal hatte sich damals eine Mehrheit im Dorf im ersten Wahlgang für Marine Le Pen, die Kandidatin des Rassemblement national (RN), entschieden. Erst im zweiten Wahlgang stimmte Donzy wie der Rest des Landes für Macron.
Unmut in der Idylle
Mittlerweile habe der Wind jedoch eindeutig nach rechts gedreht, berichtet der Mühlenbesitzer. Bei den letzten Parlamentswahlen im Juli 2024 habe der Kandidat des RN hier fast 61 Prozent der Stimmen geholt. Und heute, so Coudray, sei der Macronismus in Donzy ganz am Ende. «Meine Angestellten würden heute alle für Le Pen stimmen. Es wäre völlig sinnlos, sie vom Gegenteil zu überzeugen, ich habe aufgegeben, mit ihnen darüber zu diskutieren.» Er selbst, sagt er, habe früher auch den Präsidenten unterstützt, aber das sei ein Fehler gewesen. Emmanuel Macron habe bewiesen, dass ihn die ländlichen Regionen nicht wirklich interessierten und dass er am Ende eben doch ein Präsident der Reichen sei.
Für den wachsenden Zuspruch, den die Nationalisten in seinem Dorf erfahren, macht Coudray den Verlust des Vertrauens in die Politik in Paris und den allgemeinen Pessimismus verantwortlich: «Wir sind ein Département im Niedergang, mit vielen alten Menschen, die der Vergangenheit nachtrauern. Die Metallindustrie ist verschwunden. Auch in der Landwirtschaft gibt es immer weniger Arbeit, da hat man sich für grosse Betriebe mit wenig Personalbedarf entschieden.»
Von der Mühle auf der Insel führt der Weg zum Rathaus an pittoresken Steinhäusern vorbei. Sie sind zumeist hübsch herausgeputzt, und es fällt schwer, zu glauben, dass in Donzy der Pessimismus grassiert. Aber Marie-France Lurier, die parteilose Bürgermeisterin, zeichnet ein ähnliches Bild wie der Mühlenbesitzer. Die zierliche 68-Jährige sitzt mit gefalteten Händen an ihrem Schreibtisch. Sie berichtet, dass viele im Dorf sich von der Pariser Elite missachtet fühlten und dem RN aus Verzweiflung ihre Stimme gäben. Diesen «wütenden Menschen» versuche sie täglich zu erklären, dass man sich trotz allen Sorgen um steigende Lebenshaltungskosten und Ängsten vor dem sozialen Abstieg auf das Positive konzentrieren müsse.
«Wir haben immer noch ein funktionierendes Gesundheitssystem. Wer krank wird, wird immer noch versorgt, auch wenn er kein Geld hat. Die Schule ist kostenlos.» Überhaupt, findet Lurier, sei Donzy nicht der schlechteste Ort zum Leben. Mit einer alternden Bevölkerung zwar, und derzeit keinem Hausarzt im Dorf, aber mit immerhin zwanzig neuen Unternehmen, die sich hier in den letzten Jahren angesiedelt hätten.
Lurier erwähnt nicht die ungewöhnliche Serie von Beleidigungen und Hassbotschaften gegen sie und eine ihrer Stellvertreterinnen, die kürzlich wie aus dem Nichts auftauchten und über die das Lokalfernsehen berichtete. Aber sie sagt, dass sie doch beunruhigt sei von den sozialen Netzwerken, von der unheimlichen Macht der neuen Technologien und der fortschreitenden Entmenschlichung der Beziehungen. Donzy dürfe seinen Nachbarschaftsgeist und seine Geselligkeit nicht verlieren, «das gehört zu unserer Identität!»
Zynische Hauptstadt
Die Bürgermeisterin verfolgt die Geschehnisse in Paris, und sie hofft, dass François Bayrou – der vierte Premierminister in zwölf Monaten – «die Dinge in Paris etwas beruhigen kann». Denn dass schon wieder eine Regierung gestürzt wird und dann kein neuer Haushalt verabschiedet werden kann, könne sich die Provinz nicht leisten. «Das wäre eine Katastrophe für uns, weil wir hier ohne finanzielle Sicherheit nichts bewegen können», sagt Lurier. Gerade erst habe ihr die Unterpräfektin mitgeteilt, dass sie nicht wisse, welche Mittel sie dem Dorf für laufende Projekte bereitstellen könne.
Vielleicht hat Bayrou in diesen Tagen noch eher Freunde in der Provinz als in der gnadenlosen Hauptstadt, wo viele mit Spott auf den Premierminister blicken. Der 73-jährige Zentrist sei ein Symbol für die politische Krise des Landes; er verkörpere «Untätigkeit, Unentschlossenheit und Kompromiss» in einer Person, lästerte der rechte Fernsehsender CNews.
Falsch ist das nicht: Weil Bayrou einer Minderheitsregierung vorsteht und weder die Sozialisten noch die Lepenisten im Parlament verärgern darf, die ihn stürzen könnten, bleibt sein Diskurs gefällig und ungenau. Zu den enormen Staatsschulden, «den höchsten, die Frankreich je hatte!», sagt der Premierminister nur längst Bekanntes. Man müsse sparen, sparen! Zur verhassten Rentenreform, die den Linken und dem RN ein Dorn im Auge ist, bietet er neue Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern an – das sei ein durchschaubares Manöver, um sich Zeit zu erkaufen und an der Macht zu halten, analysieren die Beobachter.
Mitte Januar überlebt Bayrou tatsächlich einen neuen Misstrauensantrag, den die Linksaussenpartei La France insoumise eingereicht hatte. Aber es wird nur eine Atempause sein, weil seine wahre Prüfung, ein neuer Haushalt für das laufende Jahr, in dem Einsparungen verkündet werden müssen, dem Premierminister erst bevorsteht.
Keine Einwanderer
Im Hotel «Le Grand Monarque» im Dorfkern von Donzy läuft der Fernseher. Bei der Angestellten Camille weckt Bayrou keine grossen Emotionen. Aber für eine Abschaffung der Rentenreform, bei der das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre angehoben wird, kann sie sich auch starkmachen. «Es ist ungerecht, dass wir länger arbeiten sollen», findet sie. Frédéric Coudray mag seine Arbeit, aber er sagt, in letzter Zeit habe er öfters darüber nachgedacht, sich zur Ruhe zu setzen.
Joseph Frantz dagegen will noch lange arbeiten. Der freundliche Chefkoch und gebürtige Haitianer mit dem speziellen Namen («Meine Mutter mochte Österreich!») übernahm vor drei Jahren das «Grand Monarque». In Donzy und seine Einwohner habe er sich verliebt, als er auf der Durchreise gewesen sei. Er wisse, dass hier viele für Le Pen seien, aber rassistische Anfeindungen habe er noch nicht erlebt, erzählt er.
Überhaupt scheinen die Themen Migration und innere Sicherheit, die in anderen Gegenden Frankreichs Wähler zum RN treiben, im Dorf keine starken Meinungen hervorzurufen. Es gibt keine Einwanderer im Ort, und auch Agathe Pernollet räumt ein, dass viele Leute Migranten nur aus dem Fernsehen kennten.
Pernollet, eine ehemalige Pariser Beamtin und Schulbusfahrerin, will sich für das Amt der Bürgermeisterin bei den Kommunalwahlen 2026 bewerben, als Kandidatin, der einige Ideen von Marine Le Pen «jedenfalls nicht missfallen», wie sie sich ausdrückt. Die fünffache Mutter tönt nicht wie eine Radikale. Sie streitet für mehr Bürgernähe, wie sie sagt, für mehr Projekte, die den Bedürfnissen der Dorfbewohner entsprechen, und sie kämpft gegen unüberlegte Ausgaben wie für das Schaffen neuer Grünflächen, nur um damit Subventionen einzuheimsen. Aber auch sie spricht von einer politischen Kaste in Paris, die sich von der Realität im Land entfremdet habe.
Anfang Januar ist das Vertrauen der Franzosen in ihre Führung auf einem historischen Tiefstand. Nur noch 18 Prozent, so heisst es in einer Umfrage der Wirtschaftszeitung «Les Échos», hielten zum Präsidenten. 84 Prozent seien ausserdem überzeugt, dass die Bayrou-Regierung das Jahr nicht überlebe. Für Le Pen sind das gute Vorzeichen , doch freuen kann sich die Galionsfigur der Rechten noch lange nicht. Ihr drohen eine Haftstrafe und einige Jahre Nichtwählbarkeit im Zusammenhang mit dem Prozess um die Veruntreuung von EU-Geldern. Das könnte ihren Traum vom Einzug in den Élysée-Palast zerstören.