Während dreier Jahrzehnte hat er die Musikberichterstattung dieser Zeitung geprägt und blieb auch nach seiner Pensionierung eine gewichtige Stimme der deutschsprachigen Musikkritik. Nun ist Peter Hagmann gestorben.
Er wollte mit seinen Urteilen niemandem gefallen, weder den beteiligten Künstlern noch dem Publikum – am wenigsten aber sich selbst oder dem Zeitgeschmack. Wenn Peter Hagmann über Musik schrieb oder sprach, spürte man vielmehr sofort: Hier ging es einem Kundigen kompromisslos um die Sache, es ging um Abwägungen, Analysen und nachvollziehbare Argumente in der Frage, was richtig und was falsch sei an einer Interpretation.
Hagmann konnte streng sein, wenn eine künstlerische Leistung die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllte. Aber er konnte auch voller Anerkennung und sogar mit warmherziger Begeisterung über Konzerte, Einspielungen oder Opernpremieren schreiben, wenn ihm darin ein besonders schlüssiger Ansatz begegnet war – erst recht, wenn sich die Umstände bei einer Aufführung so glücklich fügten, dass die Utopie einer vollendeten, in allen Belangen stimmigen Wiedergabe für kostbare Augenblicke Wirklichkeit zu werden schien.
Mit dieser gleichermassen kritischen wie zugewandten, stets dem Eigentlichen der Kunst verpflichteten Haltung hat Peter Hagmann dreissig Jahre lang die klassische Musikberichterstattung in der «Neuen Zürcher Zeitung» geprägt. Auch nach seiner Pensionierung 2015 blieb er mit seinem privaten Blog «Mittwochs um zwölf» eine gewichtige Stimme der deutschsprachigen Musikkritik.
Wissenschaftlichem Denken verpflichtet
Während seiner Zeit bei der NZZ hielt Hagmann nicht nur aus Gründen der Tradition an der Bezeichnung «Erster Musikkritiker» fest – er verstand sie als Ehrentitel: als Verpflichtung, die Form der Fachkritik fortzuschreiben, die seit dem 18. Jahrhundert den Gang der Musikgeschichte begleitet und den Diskurs über ästhetische Fragen mitbestimmt hat. Hagmann pochte darauf, und er vermittelte es unermüdlich in seinen Artikeln, dass Kritik einer belastbaren argumentativen Basis bedarf. Wer nachvollziehbar begründen will, weshalb ein Interpret einem Stück in idealer Weise oder nur mit Einschränkungen gerecht geworden ist, benötigt auch bei der flüchtigen Augenblickskunst Musik handfeste, objektivierbare Massstäbe. Blosse Geschmacksurteile – zu laut, zu schnell, zu glatt – waren für Hagmann noch keine Kritik, Ratings per Klick-Barometer oder «Like»-Button lehnte er ab.
Für Hagmann stellte die Besprechung eines künstlerischen Ereignisses immer mehr dar als die publizierte Meinung eines Einzelnen. Um seine Argumentation zu untermauern, machte er den Werktext zur Grundlage jeder Diskussion. Entsprechend häufig traf man ihn in der Tonhalle Zürich oder im KKL Luzern mit Partituren auf den Knien an. Am Notentext mass er das Gehörte, aus ihm entwickelte er die Kriterien für seine Urteile. In dieser Hinsicht war und blieb Hagmann wissenschaftlichem Denken verpflichtet, kaum beeinflusst von Moden und Trends. Der promovierte Musikwissenschafter folgte zugleich der Tradition seiner namhaften Vorgänger bei der NZZ: Andres Briner, der sich um das Schaffen Paul Hindemiths verdient gemacht hat, und Willi Schuh, der Richard Strauss als Biograf und Ratgeber nahestand.
Peter Hagmann kannte indes auch die praktische Seite des Musizierens. Als diplomierter Organist wusste er und erfuhr es später als Jurymitglied und als Lehrbeauftragter in Bern und Zürich vermutlich regelmässig, dass die technisch adäquate Umsetzung eines Notentextes nicht ohne weiteres zu bedeutenden Interpretationen führt. Zu dem, was Komponisten in ihren Partituren fixiert haben, muss etwas hinzukommen, und dieses «Mehr» zu benennen, stellt wiederum die zentrale Herausforderung für jeden Musikkritiker dar.
Das Ideal des Originalklangs
Hagmann führte bei seinen Abwägungen immer auch musikhistorische und stilkundliche Überlegungen ins Feld. Denn ihm war bewusst, dass selbst noch der detaillierteste Notentext Deutungsspielräume lässt; je älter das Werk, desto mehr. Diese Leerstellen gilt es für die Interpreten nicht nur nach subjektivem Ermessen zu füllen, etwa mit der Wahl eines Tempos, sondern auch mit praktischem Wissen um Aufführungstraditionen und andere Gepflogenheiten der jeweiligen Epoche. Kein Wunder, dass Peter Hagmann sich früh für die historisch informierte Aufführungspraxis begeisterte und sie als entscheidende rezeptionsgeschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts begriff. Die Idee, das ursprüngliche Klangbild eines Werks, gestützt auf immer tiefer lotende Recherchen, wiederzugewinnen, hat sein Denken über Musik geformt und bestimmt.
Nikolaus Harnoncourt, der wichtigste Pionier dieses «Originalklangs», vermittelte ihm die Standards, an denen Hagmann auch traditionellere Herangehensweisen mass. Dass er dabei manchem Grosskünstler überholte Auffassungen nachwies, ohne Scheu vor Ruhm und Popularität, war seinem unbestechlichen Ohr, vor allem aber seinem hohen Verantwortungsgefühl gegenüber der Kunst geschuldet.
An Themen mangelte es nie
In David Zinman, der während seiner Zeit beim Tonhalle-Orchester Zürich die Erkenntnisse der Originalklang-Bewegung als einer der ersten Dirigenten auf die Spielpraxis eines herkömmlichen Sinfonieorchesters übertrug, fand Hagmann ein künstlerisches Gegenüber und einen Seelenverwandten. Er hat die rund zwanzigjährige Ära Zinman publizistisch intensiv begleitet, ebenso das innovative Wirken von Claudio Abbado und Pierre Boulez am Lucerne Festival unter der Intendanz von Michael Haefliger. Aber nicht nur den international ausstrahlenden Namen und Institutionen widmete Hagmann seine Aufmerksamkeit, er würdigte auch das reiche Musikleben Zürichs, der Schweiz und ausgewählter Leuchttürme in Europa nach Art eines gewissenhaften Chronisten, und zwar in mehr als nur repräsentativen Auszügen.
Sein Interesse galt gleichermassen der alten wie der neuesten Musik. Ebenso richtete er den Blick gern auf besondere Begabungen im künstlerischen Nachwuchs. Die letzten Beiträge in seinem Blog beschäftigten sich mit einer Einspielung von Mozarts d-Moll-Konzert auf historischen Instrumenten, einer klanglich ähnlich revolutionären Neudeutung von Liszts h-Moll-Sonate durch einen jungen Pianisten und mit der Uraufführung von Beat Furrers Oper «Das grosse Feuer». Vergangenheit, aus der Perspektive der Gegenwart beleuchtet, und umgekehrt – bis zum Schluss. Für Mitte Mai waren neue Beiträge angekündigt, an Themen mangelte es nie. Doch gekommen ist er zu alldem leider nicht mehr: Am 3. Juni ist Peter Hagmann im Alter von 75 Jahren gestorben.