Bei den Jungen hat sich die Zahl der Fälle in nur zehn Jahren verdoppelt. Doch der Vormarsch der psychischen Erkrankungen betrifft die gesamte Bevölkerung.
Lange Wartezeiten bei Jugendpsychologen und Kliniken, Absentismus an der Schule, steigende Abbruchquoten in der Lehre: Die Meldungen häufen sich, wonach psychische Probleme bei den Jungen stark zunehmen. Auch in Befragungen erklärt eine wachsende Gruppe, dass sie unter psychischen Beschwerden leide. Doch handelt es sich hier primär um eine subjektive Wahrnehmung, oder verschlechtert sich der Gesundheitszustand tatsächlich?
Die Invaliditätsstatistik von dieser Woche zeigt nun: Es handelt sich nicht um ein temporäres Phänomen, sondern um einen längerfristigen Trend. Die neu bezogenen IV-Renten in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen sind auf einen Rekordstand geklettert. Innert Jahresfrist nahm die Zahl um 28 Prozent zu. Das bedeutet eine Verdoppelung innert zehn Jahren und sogar eine Vervierfachung seit 1995.
«Ich halte diese Entwicklung für besorgniserregend», sagt der Psychologe Niklas Baer vom Kompetenzzentrum Workmed der Psychiatrie Baselland. «Wenn jemand psychische Probleme hat, profitiert er von einer stark ausgebauten Infrastruktur zur Betreuung und Therapie. Dies müsste eigentlich dazu führen, dass solche Fälle von Invalidität verhindert werden. Stattdessen erleben wir nun eine massive Zunahme.»
Offenbar funktionierten die ergriffenen Massnahmen nicht wie gewünscht, erklärt Baer. «Besonders bei den Jungen beobachten wir eine Enttabuisierung der psychischen Leiden – gerade auch in den sozialen Netzwerken.» Dass sie sich bei ersten Symptomen schneller behandeln liessen, werte er grundsätzlich positiv. Umso bedenklicher aber sei es, dass die Reintegration der Betroffenen nicht besser gelinge.
Früher waren Geburtsgebrechen der weitaus häufigste Grund, der bei den Jungen zu einer IV-Rente führte. Inzwischen liegt dieser Anteil nur noch bei einem Fünftel. Dagegen haben sieben von zehn Neurenten psychische Gründe. Doch psychische Erkrankungen sind bei allen Altersgruppen auf dem Vormarsch: Sorgten sie vor zehn Jahren noch für weniger als 6000 Neurenten, sind es inzwischen mehr als 10 000. Allein im letzten Jahr betrug die Zunahme 20 Prozent.
Jobverluste lassen sich verhindern
Andreas Heimer von der Firma PK Rück hat diese Entwicklung ziemlich präzise vorausgesagt. Das Unternehmen dokumentiert und begleitet Fälle von Arbeitsunfähigkeit in 10 000 Betrieben mit 250 000 Angestellten. Diese Daten ermöglichen ein Frühwarnsystem – lange bevor die Invalidenversicherung zum Zug kommt. Seit 2019 beobachte er, dass die Krankschreibungen wegen Burnout und psychischer Gründe deutlich zunähmen. «Ebenso stellen wir fest, dass die Arbeitgeber und Versicherungen oftmals zu spät reagieren und zu wenig eng kooperieren. Solche Jobverluste liessen sich vielfach verhindern.»
Das führe zu hohen Kosten, so Heimer: Pro Fall müsse man durchschnittlich 250 000 Franken für die versicherten Leistungen einkalkulieren – hinzu kommt die IV-Rente des Staates. Je jünger die betroffene Person ist, desto teurer wird es. «Für das Integrations-Coaching planen wir mit einem Budget von 10 000 bis 15 000 Franken. Das ist ein Bruchteil der Kosten, die ein Arbeitsausfall verursacht.»
Auch die IV gibt immer mehr Geld für die Eingliederung aus. Im letzten Jahr waren es 2 Milliarden Franken, drei Viertel davon gingen an Personen unter 25. Der Gesamtaufwand erreichte im letzten Jahr gut 10 Milliarden, wobei die total 250 000 IV-Renten 5,6 Milliarden kosteten.
IV-Renten erst ab 30?
Gestützt auf seine Fallzahlen geht Heimer davon aus, dass der Anstieg bei den Rentenempfängern weitergeht. Zwar hälfen die tiefe Arbeitslosigkeit und der Mangel an Fachkräften bei der Integration. Gerade bei den über 50-Jährigen hätten sich die Chancen verbessert. «Doch bei psychischen Leiden sind Eingliederungen anspruchsvoller: Hat jemand Konzentrationsprobleme, bleibt dieses Handicap unabhängig vom Beruf bestehen.»
Erschwerend komme hinzu, dass neue Krankheitsbilder auf dem Vormarsch seien, etwa ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen oder posttraumatische Belastungsstörungen. Das vergrössere die Unschärfe bei den Diagnosen, sagen beide Experten. «Wir werden zwar sensibler in der Wahrnehmung psychischer Probleme und gehen professioneller damit um», betont Niklas Baer. «Die Häufigkeit psychischer Krankheiten in der Bevölkerung hat sich im Prinzip jedoch kaum verändert.»
Baer hatte bereits vor acht Jahren den Vorschlag lanciert, psychisch Erkrankte sollten mit Ausnahme von sehr schweren Beeinträchtigungen erst ab 30 eine IV-Rente bekommen. Dies würde den Druck auf die berufliche Integration erhöhen, lautete seine Begründung. Denn bei einem 20-Jährigen könne man nur schwer prognostizieren, wie seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zehn Jahre später aussähen.
Heute sieht sich der Psychologe bestätigt: «Sehr schwer beeinträchtigte Junge wurden immer schon berentet. Doch offenbar bewegt sich die Grenze, ab wann jemand noch als arbeitsfähig gesehen wird, zunehmend nach unten.» Umso wichtiger sei es, dass die Eingliederung der Betroffenen wirklich gelinge – im Interesse der IV-Empfänger wie auch der ganzen Gesellschaft.
«NZZ Live»-Veranstaltung: Über die Kraft von negativen Gefühlen
Mit dem Psychologen Lukas Klaschinski begibt sich Sven Preger, Leiter Podcast «Neue Zürcher Zeitung», auf eine Erkundungsreise durch die Psyche: Wann entstehen negative Gefühle? Wie können wir mit ihnen umgehen? Und welche Erkenntnisse stecken in ihnen?
11. Juni, 20.00 Uhr, Kaufleuten, Zürich
Tickets und weitere Informationen finden Sie hier.