Der Politikwissenschafter Ulrich Schlie sieht Friedrich Merz mit einer schweren Belastung in die Kanzlerschaft starten. Dass so viele Abgeordnete schon zu Beginn ausscherten, hält er für brandgefährlich.
Herr Schlie, ist der zittrige Beginn als Kanzler für Merz eine Hypothek?
Es muss sich nächsten Wochen zeigen, wie sehr diese Hypothek ins Gewicht fällt. Wenn der Start gelingt und die neue Regierung Einigkeit zeigt, dann war es nur ein heilsamer Denkzettel. Entscheidend ist, dass SPD und Union zu einem echten Vertrauen in der Regierungsarbeit finden.
Heilsamer Denkzettel? Das sahen viele Beobachter am Tag der Abstimmung noch ganz anders. Es wurde eine Staatskrise heraufbeschworen.
Eine Staatskrise ist es sicher nicht. Aber es hätte sich aus dem Abstimmungsergebnis im ersten Wahlgang eine politische Krise entwickeln können. Das Problem ist, dass wir wohl nie erfahren werden, mit welcher Absicht und mit welchen Hintergedanken dieses unverantwortliche Abstimmungsverhalten zustande gekommen ist. Es war ein beispielloser Schritt, nicht nur ein ungewöhnlicher, sondern ein brandgefährlicher.
Brandgefährlich? Ist das nicht völlig normal in einer Demokratie?
Das Abstimmungsverhalten war geeignet, die Umsetzung des gemeinschaftlich beschlossenen Koalitionsvertrages zu torpedieren. Es ist für den Start einer neuen Regierung eine schwere Belastung, wenn sie nicht sicher sein kann, dass sie jederzeit die Kanzlermehrheit zustande bringt.
Das klingt so, als sei Merz jetzt schon gescheitert.
Aus meiner Sicht nicht. Er hat ja im zweiten Wahlgang die Kanzlermehrheit erreicht. Er sollte jetzt die Chance bekommen, in Ruhe sein politisches Programm umzusetzen.
Lag es vielleicht auch an der Person von Merz, dass ihm so viele die Gefolgschaft verweigert haben? Er hat ja durchaus polarisiert.
Friedrich Merz steht immer für klare Kante. Das mag nicht allen gefallen. Es wäre aber unverantwortlich, die Kanzlerwahl mit persönlichen Rechnungen zu belasten
Aber genau das ist ja offenbar geschehen. Und wer sagt, dass das nicht wieder passiert, wenn die Regierung wichtige Vorhaben durch das Parlament bringen will?
Das ist genau die Frage. Es kann niemand garantieren, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Aber es wäre zu wünschen, dass die öffentlichen Reaktionen den Abweichlern klargemacht haben, wie unverantwortlich ihr Zündeln gewesen ist.
Zündeln?
In der Tat sind die Abgeordneten bei der Wahrnehmung ihres Mandats nur ihrem Gewissen unterworfen. Aber bei einer so wesentlichen Frage wie der Kanzlerwahl gelten eigene Regeln. Da sollte jeder in der Lage sein, das eigene Ego und das eigene Kalkül zurückzustellen und sich an im Fraktionsrahmen getroffene Vereinbarungen zu halten.
Sind damit die guten alten, Zeiten der stabilen Bundesrepublik ein für alle Mal für vorbei?
Die strategischen Unsicherheiten haben in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Hinzu kommen internationalen Machtverschiebungen. Die Behaglichkeit der alten Bundesrepublik wird nicht mehr wiederkehren. Politisches Handeln heisst heute Handeln im Ungewissen. Wir können deshalb auch nicht einfach so weitermachen wie bisher.
Aber ist nicht auch ein Grund für diesen Aufstand gewesen, dass viele Parlamentarier den Eindruck gehabt haben, es wird genauso weitergemacht wie bisher? Kann man es Einzelnen da wirklich verübeln, dass sie ausscheren?
Es ist Aufgabe der jeweiligen Fraktionsführungen, eine gemeinsame Lagebeurteilung herzustellen und auf dieser Basis gemeinsam getroffene Entscheidungen politisch umzusetzen. Jede Bundesregierung, das haben wir in der Geschichte gesehen, kann nur erfolgreich sein, wenn die sie tragenden Parteien vertrauensvoll miteinander zusammenarbeiten.
Zur Person
Ulrich Schlie – Professor für Sicherheits- und Strategieforschung in Bonn
Ulrich Schlie ist 1965 in Nürnberg geboren und studierte unter anderem Geschichte und Politikwissenschaften. Von 2005 bis 2012 war er Leiter des Planungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung, von 2012 bis 2014 Ministerialdirektor. Seit 2020 ist er Professor in Bonn.
Aber wenn die inhaltlichen Gräben nun einmal so tief sind zwischen den Partnern, kann man die doch nicht einfach weg erklären. Da helfen auch die besten Gespräche nichts.
Das ist nun einmal die Kunst des guten Regierens. Die Erfahrung lehrt, dass Koalitionen immer dann erfolgreich sind, wenn die sie tragenden Politiker in einem echten Vertrauensverhältnis zueinanderstehen. Das war beispielsweise die Grundlage für die Zusammenarbeit der beiden Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel und Helmut Schmidt in den Jahren der grossen Koalition von 1966 bis 1969. Kanzler Merz und Vizekanzler Klingbeil müssen jetzt zeigen, dass sie bestehenden Gegensätze zwischen SPD und Union auflösen können.
Das klingt wie die Quadratur des Kreises. Schauen Sie sich nur an, wie weit die Parteien beispielsweise bei der Migration auseinanderliegen.
Damit beschreiben Sie eine ganz alltägliche Aufgabe, der sich die Kunst der Diplomatie immer wieder stellen muss. Es nichts Ungewöhnliches, dass Verhandlungspartner am Anfang weit auseinander liegen.