In Teufen frisst der Wolf erst ein Schaf, dann ein Reh. In Dussnang und Wolfhalden reisst er drei Alpakas. Gleichzeitig zeigt ein Bericht aus dem Wallis, dass die früher abgeschossenen Wölfe keine Nutztiere gefressen hatten. Hat das einen Zusammenhang?
Wölfe töten ihre Beute durch einen Biss in die Kehle, reissen dann die Bauchhöhle auf und zerren die Eingeweide heraus. Wenn sie in eine Weide einbrechen, beissen sie wild um sich. Der Anblick, sagt der deutsche Wolfsberater Michael Ohlhoff einem Reporter der «Süddeutschen Zeitung», sei furchtbar. Die Besitzer fänden oft ein Schlachtfeld voller toter, angefressener, verletzter und verstörter Tiere vor.
Ein ähnliches Bild bot sich Daniel Kläger Anfang April. Der Thurgauer Landwirt hält auf seinem Hof in Dussnang Mutterkühe und betreibt Biolandbau. Bis vor kurzem hatte Kehl neben einer Hündin, zwei Katzen, zwei Ziegen und zwei Kaninchen auch drei Alpakas. Bis der Wolf kam und zwei Alpakas riss. Das dritte musste wegen seiner schweren Verletzungen eingeschläfert werden.
Auf Anraten der Thurgauer Jagd- und Fischereiverwaltung redete Kläger nicht mit den Medien, doch dann redete der Jagdverwalter. Der Zaun der Alpakaweide sei zu wenig hoch gewesen. Heute sagt Bauer Kläger: «Am Ende waren wir die Deppen.»
Überall sind in den vergangenen Wochen Wölfe gesichtet worden
Wenige Tage später kam es in der Ostschweiz zu weiteren Wolfsrissen. Erst wurde in Teufen ein Schaf getötet, kurz danach ein Reh. Der Kadaver des Rehs wurde in unmittelbarer Nähe der Siedlung gefunden. In der Dorfzeitung «Tüüfner Post» versichert der zuständige Wildhüter: «Bei diesem Wolf handelt es sich fast sicher um ein männliches Jungtier auf Durchzug. Das bedeutet, er verteidigt kein Revier und ist demnach auch für Hunde keine Gefahr.» Der Wildhüter sagt aber auch: «Sicher ist, dass der Wolfsbestand in der Schweiz in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird – trotz der Abschüsse. Es könnte also sein, dass wir in Ausserrhoden den nächsten zwei Jahren bereits ein sesshaftes Rudel haben. Es könnte aber auch noch zehn Jahre dauern.»
Kurz danach schlägt der Wolf in Wolfhalden erneut zu. Wieder ist es ein Alpaka. Die Experten vermuten, dass es sich um dasselbe Tier handelt, das zuvor das Schaf und das Reh in Teufen gerissen hat.
In der Ostschweiz, in der Innerschweiz, im Wallis, in Graubünden und im Zürcher Säuliamt: Überall sind in den vergangenen Wochen Wölfe gesichtet worden, viele in der Nähe von Siedlungen – oder mitten drin. Was also hat die von Bundesrat Albert Rösti bewilligte zweimonatige Wolfsjagd bewirkt, die Ende Januar zu Ende gegangen ist? Laut dem Bundesamt für Umwelt einiges. Zu Beginn der präventiven Wolfsjagd habe es in der Schweiz über 30 Wolfsrudel und mehr als 300 Wölfe gegeben. Heute seien es immer noch etwa 30 Rudel, aber nur noch etwa 250 Wölfe.
Kritiker aus Naturschutz und Jagdkreisen hingegen befürchten, dass die präventive Jagd nicht viel gebracht hat. Sie vermuten sogar, dass die Jagd dazu geführt hat, dass Rudel auseinandergerissen wurden. Dadurch hätten viele Tiere den Anschluss zu ihren Familienverbänden verloren und seien zu «Lonely Wolfs» geworden, Einzeltieren, die sich bis in die Dörfer wagten. Im Online-Portal Watson sagt David Gerke, der Geschäftsführer der Gruppe Wolf: «Wölfe in Siedlungsnähe sind eine Folge der unkontrollierten Abschüsse.»
Bestätigt fühlt sich Gerke durch einen Bericht aus dem Wallis. Der Kanton hat kürzlich eine Liste aller geschossenen Tiere veröffentlicht, die zeigt, dass die meisten geschossenen Wölfe zuvor keine Nutztiere gerissen haben. Das beweise, dass die Abschüsse unselektiv gewesen seien, sagt Gerke. Es habe sich im Wallis um eine «Quotenjagd» gehandelt und nicht um eine gezielte Regulierung von gefährlichen Tieren.
Haben Gerke und seine Wolfsfreunde recht, hat Bundesrat Albert Rösti ein Problem. Denn wie der «Tages-Anzeiger» kürzlich schrieb, sind die Kritiker der vom Berner Oberländer ermöglichten präventiven Wolfsjagd nicht nur in Raubtier-Lobbyisten-Gruppen zu finden, sondern auch in der Bundesverwaltung. Das Bundesamt für Justiz etwa kam zur Ansicht, das Gesetz lasse den Abschuss ganzer Rudel nicht zu.
Am Ende stoppte das Bundesverwaltungsgericht die Jagd auf mehrere Rudel in den Kantonen Wallis und Graubünden vorzeitig. Der Bundesrat reagierte darauf, indem er das im Dezember 2022 revidierte Jagdgesetz in die Vernehmlassung schickte. Sie dauert bis 5. Juli. Das Ziel ist, dass die angepasste Jagdverordnung am 1. Februar 2025 in Kraft treten soll.
Die Wirkung der bisherigen Abschüsse werde sich erst im nächsten Alpsommer beurteilen lassen, schreibt Röstis Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK). Klar sei, dass die Wolfsbestandsregulierung zur Daueraufgabe werde.
Was nun?
Die Frage, wie viele Wölfe in der Schweiz geschossen werden dürfen, ist also noch unbeantwortet. Und auch die Frage, weshalb sich die Tiere immer näher an die Dörfer wagen, wird Bund und Kantone weiterhin beschäftigen.
Mit diesem Problem ist die Schweiz allerdings nicht alleine. In Deutschland hat sich die Zahl der Wölfe in den vergangenen zehn Jahren versiebenfacht. In Rumänien schätzt man die Zahl der Wölfe auf über 3000 Exemplare, in Italien sollen es exakt 3308 Tiere sein. Überall stellt sich derselbe Interessenkonflikt: die Angst vor dem Wolf gegen die Angst um den Wolf.
Die Frage, wie die Länder mit dem Raubtier umgehen sollen, spielt deshalb auch bei den Wahlen ins Europäische Parlament eine Rolle, die von 6. bis 9. Juni stattfinden. Vor allem die Konservative Europäische Volkspartei EVP erhofft sich politisches Profil von der Traktandierung der Wolfsfrage. Im Europaparlament will sie erreichen, dass der Schutzzstatus der Wölfe gelockert wird. Die Tiere sollen zwar immer noch geschützt sein, aber nicht mehr so streng,
Eine überzeugte Befürworterin der Wolfsregulierer in der EVP ist mittlerweile auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. In einem Schreiben an die EVP-Fraktion im Europäischen Parlament hat sie dezent, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass die geplante Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH) den Mitgliedstaaten genügend Spielräume eröffne, um auf wachsende Wolfsbestände zu reagieren. Das Signal ist klar: Die deutsche CDU-Politikerin unterstützt die Forderung nach Begrenzung der Wolfsbestände und begrüsst regulierende Abschüsse.
Denn Ursula von der Leyen weiss wovon sie spricht. Sie hat selbst leidvolle Erfahrungen mit dem Raubtier gemacht. Vor zwei Jahren riss ein Wolf ihr Lieblingspony. Es stand auf der Weide ihres Anwesens in Burgdorf-Beinhorn – mitten im norddeutschen Siedlungsgebiet.