Der chinesisch-kanadische Künstler Matthew Wong erschuf in seinen Bildern ein eigenes Refugium. Seine Kunst ist zugleich auch ein Spiegel seines psychischen Leidens. Im Kunsthaus Zürich ist nun eine Gegenüberstellung von Wongs und van Goghs Werken zu sehen.
Bilder chinesischer Landschaften sind begehbar. Das Auge spaziert darin einen schmalen Pfad entlang durch Bergkulissen, Wälder, Bambushaine, an Bächen vorbei, über kleine Brücken bis hinauf zu einem Wasserfall, neben dem auf einem Felsvorsprung ein Teepavillon wartet.
Solche Landschaften hat gewissermassen auch der chinesisch-kanadische Künstler Matthew Wong gemalt: Phantasiekompositionen, in welchen er sich wie in einer Traumwelt bewegen konnte. Vorbild war ihm der chinesische Maler Shitao. Wie die Tuschebilder des Meisters aus der Qing-Dynastie werden Wongs Bilder von kleinen Figuren bevölkert.
Shitaos Ideallandschaften beschwören nach gut chinesischer Tradition einen Kosmos, in den der Mensch eingebettet ist. Wongs Bilder hingegen sprechen weniger von solch spirituellen Vorstellungen. Da geht es mehr um die unendliche Grösse der Welt und die Kleinheit des Selbst in ihr.
Van Goghs Halluzinationen und Wongs Depression
Manchmal drohen Wongs Figuren geradezu verschlungen zu werden vom Gewicht der vegetabilen Umgebung, in der sie stehen. Es ist auch viel Melancholie und Einsamkeit vorhanden, und der Versuch des Künstlers, diese Phantasielandschaften zum eigenen Refugium zu machen. Da ist nicht nur Schönheit und Ruhe, sondern auch die Angst spürbar, verlorenzugehen, der Welt abhandenzukommen. Noch seine bezauberndsten Kompositionen haben stets etwas Erschreckendes.
Diese Ambivalenz ist auch bei Vincent van Gogh auszumachen – einem Künstler, bei dem sich Matthew Wong wiederholt Inspiration holte. Wie van Gogh litt auch Wong unter einer psychischen Krankheit. Bei van Gogh war sie psychotischer und halluzinatorischer Natur. Bei Wong waren es Depressionen. Hinzu kamen Autismus und das Tourette-Syndrom, eine neuropsychiatrische Erkrankung, die sich in motorischen Störungen bemerkbar macht.
1984 in Toronto geboren, fand Wong spät zur Malerei, erst mit 27 Jahren. Mit 35 beging er Suizid. Auch van Gogh nahm sich bekanntlich das Leben: 1890, im Alter von 37 Jahren. «Ich sehe mich selbst in ihm. Die Unmöglichkeit, in diese Welt zu gehören», sagte Wong einmal in Bezug auf van Gogh.
Emotionaler Ausdruck
Van Gogh malte die Landschaften Südfrankreichs. Gleichwohl wirken seine Bilder nicht wie Abbilder einer äusseren Lebenswelt, sondern wie halluzinierte Visionen derselben. Alles ist in gleissendes Licht getaucht, alles steht in Flammen, vibriert und bebt, flimmert und strahlt. Selbst van Goghs berühmte Sternennacht, die sich im Museum of Modern Art in New York befindet und auf die Matthew Wong in seinem eigenen Nachtbild «Starry Night» von 2019 direkten Bezug nahm, irrlichtert alles in stürmischem Aufruhr.
Im Kunsthaus Zürich ist nun eine Gegenüberstellung der Bilder beider Künstler zu sehen. Die Seelenverwandtschaft ist augenfällig. Derselbe pastose Farbauftrag, dieselbe pointillistische Malweise – die Sonne, die Sonnenblumen, die Vorliebe für Gelb und Blau. Beide Künstler folgten demselben roten Faden in ihrem Schaffen, indem sie den emotionalen Ausdruck ihrer inneren Befindlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellten.
Dies führte bei Vincent van Gogh zu einem originären Stil inmitten der aktuellen Kunstströmungen seiner Zeit. Und das gilt auch in hohem Mass für Matthew Wong, der in der Auseinandersetzung mit weiteren Kunstschaffenden wie Henri Matisse, Gustav Klimt, Yayoi Kusama oder Alex Katz zu seiner Bildsprache fand.
Matthew Wong: «The Space between Trees», 2019, Öl auf Leinwand; «The West», 2017, Öl auf Leinwand.
Opfer seines Erfolgs?
Mit seiner grossen Solo-Ausstellung in New York, ein Jahr bevor er Suizid beging, fand Wong breite Beachtung. Er stand damals auf der Schwelle zum Ruhm, und sein Tod war ein Schock für die Kunstwelt. Zwar hoffte Wong, dass Anerkennung zu seiner psychischen Gesundheit beitragen würde. Doch je mehr Erfolg er hatte, desto mehr empfand er diese Hoffnung als illusorisch. Der Druck der Öffentlichkeit stieg mit seinem Bekanntheitsgrad. So konstatierte er gegenüber seinem Künstlerkollegen Peter Shear: «Mit der Aufmerksamkeit fühle ich mich eigentlich nicht wohl. Früher war es anders [. . .]. Jetzt möchte ich gar nicht mehr so exponiert sein. Am liebsten wäre ich einfach unsichtbar – Ausstellungen machen, ein paar Bilder verkaufen, damit ich mein Auskommen habe und weiterarbeiten kann.»
Matthew Wong trat zwar an Vernissagen auf, begab sich unter die Leute, dann aber zog es ihn zurück in sein Atelier in Edmonton. «Ich kann sagen, dass ich nie die sozial kompetenteste Person war. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich einfach nur male», sagte er. Oft war er zerrissen zwischen Selbstvertrauen und völliger Verunsicherung. «Wenn man zu viel malt, kann man daran verrückt werden», sagt eine Künstlerkollegin in einem kurzen Dokumentarfilm über Matthew Wong. Ähnliches jedenfalls widerfuhr Vincent van Gogh.
Zugleich war Malerei für beide, Van Gogh wie Matthew Wong, eine Zuflucht, ein Weg, zu leben. Gute Kunst entsteht aus innerer Notwendigkeit. Die letzte Zuflucht aber war die Kunst für beide nicht. Sie wählten schliesslich einen anderen Weg.
Kurz bevor sich Matthew Wong das Leben nahm, schuf er ein symbolträchtiges Bild, dem er den Titel «See You on the Other Side» gegeben hat. Eine einsame, auf einem Felsen sitzende Figur blickt auf ein Haus, das auf der anderen Seite einer weiten, leeren, wie ein Gewässer aussehenden Fläche steht. Im Vordergrund auf der linken Seite schwingt sich ein rotes, vogelartiges Wesen in die Lüfte. Ob Matthew Wong an den Phönix erinnern wollte, der sich nach dem Tod aus der Asche zur Wiedergeburt in einer anderen Welt erhebt?
«Matthew Wong – Vincent van Gogh. Letzte Zuflucht Malerei». Kunsthaus, Zürich, bis 26. Januar 2025. Katalog Fr. 49.–.