Weltweit sind viele Bahnstrecken nicht elektrifiziert. Batterie- und Wasserstoffzüge können einspringen. Das ist teures Neuland, auch für Hersteller wie Stadler und Siemens.
Seit 40 Jahren gelten Elektrozüge in Fachkreisen als arrogant. Denn seit dem Frühjahr 1984 dreht die Lok Electra im Musical «Starlight Express» von Andrew Lloyd Webber ihre Runden und singt breitspurig: «Ich bin elektrisch, die Zukunft bin ich.» In Webbers Welterfolg wetteifern Züge darum, wer der beste ist. Gegen Electras Dominanz greift die Diesellok Greaseball zu schmutzigen Tricks – und die Dampflok Rusty braucht überirdische Hilfe.
Webber war voreilig. Zwar hat Electra grundsätzlich recht, aber bis heute sind grosse Teile des europäischen Eisenbahnnetzes nicht elektrifiziert. In Deutschland sind es zum Beispiel 39 Prozent der Gleise. Dort fehlen die Oberleitungen, aus denen die Züge den Strom beziehen. Elektrifiziert wurden meist nur Strecken, auf denen genug Verkehr herrscht, allen voran Hochgeschwindigkeitstrassees. Weniger befahrene Regionalstrecken hatten oft das Nachsehen.
In vielen Ländern geht es nicht ohne Diesel
Eine grosse Ausnahme ist die Schweiz. Hierzulande liegt der Anteil der nicht elektrifizierten Strecken bei gerade einmal 0,2 Prozent. Das Land ist klein, die Bahn ist nahezu überall unentbehrlich, und die Schweiz wollte schon früh unabhängiger von Brennstoffimporten werden.
Im Rest der Welt haben Dieselzüge ihren festen Platz auf den Schienen. Doch im Kampf gegen den Klimawandel sind die Greaseballs ein Problem. Hersteller von Schienenfahrzeugen setzen grosse Hoffnungen auf Züge, die von Batterien und Wasserstoff angetrieben werden.
Der Weg ist steinig. Aus diesem Grund feierte es Stadler umso mehr, als der Zughersteller vor wenigen Tagen in Rendsburg, mitten im norddeutschen Bundesland Schleswig-Holstein, ein Reparatur- und Wartungswerk für Batteriezüge einweihte. Es ist für den Flirt-Akku ausgelegt, wie die Batterievariante des Schweizer Regionalzug-Bestsellers heisst. Das Werk ist das erste seiner Art für Stadler.
Die Flirt-Akkus fahren in Schleswig-Holstein seit Herbst 2023 als weltweit erste Batteriezüge im regelmässigen Linienbetrieb. 55 Fahrzeuge hat der dortige Nahverkehrsverbund bestellt. Der Bau des Instandhaltungswerks war Teil der Ausschreibung. «Die technischen Risiken, die sich aus der Wartung dieser neuen Antriebstechnologie ergeben, wollte man bei dem Hersteller lassen», sagt Ansgar Brockmeyer, Divisionsleiter Verkauf & Marketing bei Stadler. 30 Millionen Euro hat das Unternehmen in das Werk investiert.
Den eigenen Zug besser verstehen
Was wie eine unangenehme Pflicht klingt, ist Stadler sehr willkommen. «Wenn wir alternative Antriebe verkaufen wollen, müssen wir sehr viel mehr Wissen über den Betrieb haben», sagt Brockmeyer. Es geht um Fragen, wie oft und wie stark eine Batterie am besten nachgeladen wird und wie ein optimales Betriebsprogramm aussieht, das sie möglichst schont.
Das ist wichtig, um die Gesamtkosten der Flirts zu reduzieren. Ein Zug hat eine Lebensdauer von mindestens dreissig Jahren. Eine Zugbatterie verliert derzeit nach rund zehn Jahren an Leistungskraft – und muss also im Extremfall drei Mal getauscht werden. Das macht den Unterhalt deutlich teurer als bei einem Dieselzug. «Solche Dinge haben früher nicht interessiert. In einen Dieselzug tankt man 2000 Liter Diesel und fährt eine Woche durch die Gegend», sagt Brockmeyer.
Die Optimierung des Betriebs soll helfen, Kunden zu überzeugen. Derzeit ist ein Batteriefahrzeug allein in der Anschaffung etwa um die Hälfte teurer als ein nur per Oberleitung versorgter Elektrozug. Ein Wasserstoffzug ist etwa doppelt so teuer. Bei diesem muss nach einigen Jahren überdies nicht nur die Batterie getauscht werden, die auch dort als Puffer verbaut wird, sondern zudem die Brennstoffzelle, die den Wasserstoff in Strom umwandelt.
Der Gewinn kommt mit der Masse
Der Preisvergleich ist etwas unfair, weil Stadler die neuen Züge noch nicht in den Stückzahlen produziert, wie man sie von klassischen Elektrozügen kennt. Die Firma hat Rahmenverträge für die Lieferung von bis zu 320 Fahrzeugen mit alternativen Antrieben abgeschlossen – davon rund 80 Prozent für Akku-Züge. 180 Einheiten wurden fix bestellt. Derzeit machen die Auslieferungen weniger als einen Zehntel der jährlichen Produktion aus.
Die fehlenden Grössenvorteile tragen dazu bei, dass die Züge für das Unternehmen aus dem thurgauischen Bussnang noch längst nicht so rentabel sind wie die bewährten Modelle. Dennoch sieht Stadler viel Potenzial und sich selbst als Technologie- und als Marktführer: Die Firma hat für Batterie- und Wasserstoffzüge jeweils den Weltrekord für die längste gefahrene Strecke ohne Nachladung aufgestellt sowie bisher die meisten Züge dieser Art ausgeliefert.
Stadler ist aber nicht allein. Der französische Konkurrent Alstom hatte als Erster einen Wasserstoffzug entwickelt. Der deutsche Wettbewerber Siemens konzipierte beide Varianten gleichzeitig. Platz sei für alle da, heisst es: «Allein in Europa müssen 15 000 Dieseltriebzüge substituiert werden», sagt Albrecht Neumann, CEO Rolling Stock bei der Konzernsparte Siemens Mobility. «Kein Hersteller wird das allein schaffen. Deshalb ist Wettbewerb sinnvoll und richtig, um die Klimaziele schnellstmöglich zu erreichen.»
Neue Leitungen braucht es trotzdem
Die Hersteller wollen sich für eine Auftragsflut positionieren, die nicht lange auf sich warten lassen kann: Weil Züge jahrzehntelang in Betrieb sind, müssen sich die Bahnen in nächster Zeit für alternative Modelle entscheiden, wenn spätestens bis zur Jahrhundertmitte nicht mehr Emissionen entstehen sollen als kompensiert werden können. Wobei entscheidend ist, dass auch der Strom, der den Zug antreibt oder den Wasserstoff erzeugt, möglichst grün sein muss.
Doch die Infrastruktur bleibt ein kritischer Punkt, insbesondere bei Batteriezügen. Je nach Zugsart und Streckenprofil kann ihnen ab rund 100 Kilometern der Saft ausgehen. Darum dürfen die Abschnitte ohne Oberleitung nicht zu lang sein. Auch wenn eine teure Vollelektrifizierung entfällt, müssen zumindest manche Abschnitte ausgerüstet oder Ladepunkte geschaffen werden, zum Beispiel an Bahnhöfen. Das gilt primär für Westeuropa, wo die Batterietechnologie als Mittel der Wahl gesehen wird.
«Für andere Märkte, beispielsweise in Osteuropa oder Übersee, wird es eher um längere Strecken gehen, und damit wird Wasserstoff die richtige Entscheidung sein», sagt Neumann. Denn wenn die nicht elektrifizierten Streckenabschnitte zu gross sind, kann sich Wasserstoff lohnen, mit dem ein Zug wesentlich länger durchhält – trotz höheren Kosten für Fahrzeuge und den Kraftstoff sowie trotz einer wesentlich geringeren Energieeffizienz.
In den USA locken Milliarden für neue Projekte
Das Paradebeispiel sind die USA. Sie haben mit 290 000 Kilometern Länge das grösste Streckennetz der Welt – fast ganz ohne Oberleitungen. Die meisten Strecken werden von privaten Güterbahnen kontrolliert, Passagierfahrten sind die Ausnahme. Für Stadler ist das Land dennoch sehr interessant: «Wir glauben, dass zwischen den grossen Ballungszentren früher oder später ein nennenswerter Personenverkehr existieren wird», sagt Brockmeyer.
Zudem haben die USA unter Präsident Joe Biden umfangreiche Förderprogramme lanciert. Mit einem eigenen Werk in Salt Lake City sehen sich die Schweizer gerüstet, davon zu profitieren. Sowohl Wasserstoff- wie auch Batteriezüge hat Stadler schon über den Grossen Teich verkauft. Allerdings fehlt es auch in Europa nicht an Förderungen, insbesondere für Wasserstoff. Auf manchen Strecken ist die Nachfrage bereits da, etwa für Schmalspurbahnen in Italien.
Die neuen Antriebe zwingen die Fahrzeughersteller, zu Technologieberatern zu werden. Siemens hat für seine Mireo-Regionalzüge ein Abkommen mit einem Wasserstoffanbieter geschlossen, um die Lieferungen des Kraftstoffs zu erleichtern. Für die Batteriezüge bieten die Deutschen die Infrastruktur, etwa die Oberleitungsinseln, mit den Fahrzeugen im Paket an. Auch Stadler arbeitet mit Unternehmen zusammen, um Infrastrukturangebote aus einer Hand zu unterbreiten.
Noch sind die alternativen Antriebe ein aufwendiges Nischengeschäft für Stadler. Das Ziel sei gewesen, die Fahrzeuge zu lancieren, erste Kunden zu gewinnen und dabei nicht die Preise kaputtzumachen, so Brockmeyer: «Wenn sich dieser Markt einmal entwickelt, wird er ein gutes Geschäft für Stadler sein.»